Ausgegeizt!: Wertvoll ist besser - Das Manufactum-Prinzip (German Edition)
noch nie einen so starken Vertriebspartner gehabt. Die Mengen, um die es ging, waren für uns Neuland. Es war ein Riesenschritt nach vorne. Zuerst freuten wir uns riesig und fielen uns in die Arme. Dann bekamen wir ein bisschen Angst, ob wir das schaffen würden. Aber wir packten es einfach an. Wir würden einfach unser Bestes geben.
Unser Gut liegt weit außerhalb, bis Ajaccio sind es gut 50 Kilometer über kleine Bergstraßen. Wir haben kein Auto und wollen auch keines. Die erste Lieferung brachten wir mit unserem alten Handwagen zur Post. Manufactum bezahlte prompt, es war alles wunderbar gelaufen.
Kaum war das geschafft, kam der nächste Anruf aus Deutschland: Sie brauchten mehr! Die Nachfrage sei groß. Sie bräuchten die Ware schnell.
Wir verstanden das gut. So ein Versandhandel muss immer lieferfähig sein, sonst kostet das jeden Tag viel Geld. Wir mussten also mehr Marmelade kochen und schneller liefern. Wir setzten uns hin, rechneten, kalkulierten, und begannen, unser Geschäft auszubauen. Wir waren rund um die Uhr bei der Arbeit und lieferten aus, was wir konnten. Dabei überhörten wir offenbar ein paar Mal das Telefon. Jedenfalls war der Disponent von Manufactum beim nächsten Telefonat ein wenig genervt: Er bekäme uns nie an die Strippe, wir sollten uns ein Fax anschaffen, damit er uns die Bestellung einfach durchfaxen könne.
Uff, wir waren ganz schön unter Druck. Am nächsten Tag machte ich ein schönes Foto von unserem neuen Esel, vollgepackt mit Marmelade. Dann setzte ich mich an den Schreibtisch und schrieb den Leuten von Manufactum einen Brief:
»Liebe Manufactum-Einkäufer,
leider brauchen wir das Geld, das wir von euch bekommen haben, bisher hauptsächlich, um neue Früchte zu kaufen und die Marmelade zu kochen, die ihr bestellt habt. Für ein Faxgerät hat es noch nicht gereicht.
Aber immerhin haben wir uns schon einen neuen Esel anschaffen können, wie ihr auf dem Foto seht. Außerdem Packtaschen und einen kleinen Wagen, den wir hinten an den Esel spannen können. Damit können wir viel mehr Gläser auf einmal liefern und viel schneller in die Stadt bringen. Das sollte ein erster Schritt zu einer noch besseren Zusammenarbeit sein.
Mit vielen Grüßen aus den sonnigen Bergen von Korsika,
Eure Marmeladenkocher«
Was heißt schon professionell?
Diesen Brief und dieses Foto und diesen Esel gab es wirklich, die Geschichte hat sich tatsächlich so zugetragen, auch wenn ich sie nun aus meiner Erinnerung und aus korsischer Perspektive nacherzählt habe.
Einem Category-Manager in einem Lebensmittelkonzern entlockt so eine Geschichte vermutlich nur ein müdes Grinsen, und es schießen zwei Wörter durch seinen Kopf: naiv und unprofessionell. Aber ist diese Art, Geschäfte zu machen, wirklich naiv? Ist sie wirklich unprofessionell?
Zumindest ist sie unbürokratisch. Und sie ist fair. Auch bei Manufactum ist die Situation oft so, dass der Händler viel, viel größer ist als der Lieferant, ganz ähnlich wie bei Edeka & Co. Auch im Falle der Korsika-Geschichte tritt der Händler fordernd auf und stellt Ansprüche an den Produzenten. Aber es gibt trotzdem zwei gravierende Unterschiede. Erstens: Manufactum ist dazu
fähig
, zum Endkunden hin High-End-Service zu bieten, wie man ihn von einem Versandhaus erwartet, und dennoch mit Lieferanten zu arbeiten, die sehr klein sind, die nicht ihre Produktstammdaten direkt ans SAP-System übermitteln können und die vielleicht auch nicht immer typische Managementqualitäten besitzen, sondern eher gute Handwerker sind. Anders gesagt: Wenn jemand eine wirklich tolle Marmelade kochen kann und bereit ist, sich wenigstens an ein paar Spielregeln der Zusammenarbeit zu halten, dann kriegt Manufactum den Rest schon hin. Zweitens: Manufactum
hilft
den Marmeladekochern, ihr Geschäft aufzubauen, und versucht nicht, sie auszusaugen, über den Tisch zu ziehen, zu erpressen.
Aber warum eigentlich nicht?, denkt der Category-Manager. Sind diese Manufactum-Spinner so menschenfreundlich, naiv, unprofessionell, ideologisch verbrämt, dass sie nicht kapieren, dass das Geschäft mit dieser Eselklitsche unprofitabel ist? Die Machtverhältnisse sind doch ganz klar: hier der große Händler aus Deutschland, da die kleine Bude in Korsika. Es ist logisch, wer in diesem Geschäft von wem abhängig ist, oder? Warum drehen die nicht wenigstens an der Preisschraube? Korsika ist doch quasi Dritte Welt, da kann man doch viel billiger produzieren, die Marmelade muss doch nicht so teuer
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