Ausgeliebt
von einem Abend, der sechs Jahre her ist. Das ist doch vergessen.
Du benimmst dich, als wärst du wieder dreizehn. Da hast du genauso für David Cassidy geschwärmt, sein Bravo-Starschnitt hing
über deinem Bett. Das ist aber fast dreißig Jahre her. Sei nicht so kindisch.«
Ich ärgerte mich, als ich Tränen spürte. Es war wirklich kindisch. Ich hatte mich einfach in die Erinnerungen hineingesteigert.
Vielleicht hatten mich Ninas Sehnsüchte angesteckt und ich mutierte jetzt auch zu einer dieser suchenden, sich verzehrenden
Singlefrauen.
»Das lasse ich nicht zu. Nicht nach allem, was ich geschafft habe.«
Ich merkte, dass ich diesen Satz laut gesagt hatte. Wenn ich Dorothea erzählt hätte, dass ich begann, laute Selbstgespräche
zu führen, sie hätte mich noch am selben Tag in ein Schuhgeschäft ihrer Wahl geschleppt. Sie löst alle kleinen Probleme mit
dem Kauf neuer Schuhe.
Und dieses war nur ein kleines Problem, noch nicht einmal ein Problem, mehr eine Verwirrung.
Ich merkte, dass mir der Wein langsam zu Kopf stieg, ging in die Küche, goss den kleinen Rest aus der Flasche in die Spüle
und ging Zähne putzen.
Nach drei Seiten Krimi, bei denen sowohl der Kommissar als auch der Verdächtigte Richards Gesicht hatten, knipste ich entnervt
die Lampe aus.
Ich stand vor einem riesigen Berg Schuhe und versuchte verzweifelt, ein zusammengehöriges Paar zu finden. Einen schwarzen
Stiefel hatte ich in der Hand, die anderen Stiefel waren entweder braun oder grün oder hatten eine ganz andere Form. Dorothea
stand lächelnd neben mir und fügte Paar um Paar zusammen. Es war wie ein Memory-Spiel, jedes Mal, wenn sie ein Paar zusammen
hatte, ertönte eine Klingel.
Ich wurde wach, weil das Klingeln immer lauter wurde, und |164| tastete verschlafen nach dem Lichtschalter. Als ich den Wecker entziffern konnte, begriff ich, dass ich erst zwei Stunden
geschlafen hatte. Es war kurz vor Mitternacht und irgendein Idiot rief hier an. Ich setzte mich auf, wollte erst nicht rangehen,
dann schossen mir Bilder von Unfällen und anderen Katastrophen durch den Kopf. Ich sprang auf, nahm den Hörer vom Wohnzimmertisch
und meldete mich heiser.
Sofort hörte ich die fragende Stimme, die jetzt ganz anders klang, fast drängend.
»Christine?«
Ich war schlagartig wach.
»Richard?«
Dann erst fiel mir das Gespräch von vorhin wieder ein.
»Woher hast du denn meine Nummer?«
Richard lachte leise.
»Die habe ich mir vorhin vom Display abgeschrieben. Christine, ich habe wie ein Idiot reagiert. Können wir das Gespräch von
vorhin vergessen und noch mal neu anfangen?«
Ich bekam Herzklopfen, setzte mich langsam in den roten Sessel.
»Das wäre gut.«
»Ich hatte heute einen ziemlich blöden Tag, das soll jetzt keine Entschuldigung sein, vielleicht eine Erklärung. Jedenfalls
habe ich vorhin in meiner Wohnung gesessen, ziemlich schlecht gelaunt, und als das Telefon klingelte, dachte ich erst, das
Generve ginge weiter. Und als ich deine Stimme hörte, habe ich mich so gefreut, dass ich das nicht so schnell auf die Reihe
bringen konnte. Es tut mir leid.«
»Naja, ich war ja auch nicht der Ausbund an Witz, ich fand dich nur so unverbindlich, damit hatte ich nicht gerechnet.«
Richard antwortete schnell. »Ich wollte überhaupt nicht unverbindlich sein, ganz im Gegenteil. Ich war so unsicher, kennst
du das? Man ist aufgeregt, will ganz charmante und witzige Sachen sagen und hört sich selbst dabei zu, wie man das ganze Gespräch
vergeigt?«
|165| »Das kenne ich.«
Ich fing an zu zittern, wusste nicht, ob ich aufgeregt war oder fror. Richard merkte es an meiner Stimme und fragte nach.
»Du hast schon geschlafen, oder? Hast du überhaupt noch Lust zu telefonieren?«
Ich hatte Lust, holte mir eine Wolldecke und meine Zigaretten und kroch damit in den roten Sessel.
Und plötzlich ging es. Wir machten da weiter, wo wir in Berlin vor sechs Jahren aufgehört hatten. Ich erzählte Richard von
den letzten Monaten, begann mit dem Anruf von Bernd und endete beim roten Sessel. Er stellte Fragen, ich antwortete. Er begann
Sätze, ich beendete sie.
Ich stellte ihm Fragen, er erzählte. Von den Kämpfen mit Sabine, seiner zweiten Frau, von Streitigkeiten, von Machtkämpfen,
von Versöhnungen, von Resignationen.
Richards Ehe wurde immer mehr Fassade, er selbst immer gleichgültiger. Dazu kam die Unlust, weiterhin als Justiziar beim Berliner
Sender zu arbeiten.
»Und dann traf ich vor
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