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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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College keinen Erfolg habe, könnte ich damit Karriere machen.«
    »Oh.« Er tippte die Asche auf einer Art Schaltpult ab. »Vermutlich ist es ja offensichtlich. Zum Beispiel hat sich mein Vater schon immer Sorgen deshalb gemacht, sogar schon, als ich erst drei war. Er hat mir alle Malbücher weggenommen.«
    »Warum?«
    »Vermutlich habe ich für seinen Geschmack zu viel gemalt. Und er hat mir nicht erlaubt, mit Mädchen zu spielen, aber dann hat meine Mutter gemeint, es sei noch schlimmer, wenn ich immer nur mit Jungen spiele, und dann durfte ich nur noch mit meinen Kusinen spielen. Sie sind katholisch. Meine Eltern. Nun, meine Kusinen auch, aber du weißt, was ich meine.«
    Wir redeten und rauchten so viel dabei, dass mein Hals schmerzte. Ich denke, er war beeindruckt, dass ich ihn nicht habe fallenlassen, sondern mit ihm darüber sprach, als wäre ich nicht schockiert. Vermutlich hätten achtzig Prozent aller Schüler die gleiche Reaktion gezeigt, sie wären begeistert gewesen, eine Privataudienz bei Darren Alquist zu bekommen, aber das schien ihm nicht bewusst zu sein, und ich konnte es ihm nicht sagen, ohne durchblicken zu lassen, wie unwiderruflich er schon geoutet war. Außerdem könnte ich seine Freundschaft gewinnen, wenn ich vorgab, zu den wenigen zu gehören, die ihn wirklich verstanden, und er war wesentlich interessanter und beliebter als meine anderen Freunde. Ich hatte schon eine vage Vorstellung davon, wie wir zusammen in der Cafeteria sitzen und Jungs begutachten würden.
    Wir waren bereits ins Gespräch vertieft, als er sagte: »Es ist, als hätten sie immer, seit meiner Geburt, irgendwelche Teile entfernt und falsche dafür eingesetzt. Wie damals, als mein Vater mir die Malbücher wegnahm und mir dafür Legosteine gab, und als die Jungs in der Middle School über meinen Gang lachten, bis ich mir diesen falschen Gang angewöhnte, an den ich jede Sekunde denken musste. Und dann diese Schule hier, o Gott, es ist, als hätten sie mir das Herz herausgerissen und dafür einen Klumpen Blei gegeben.«
    Ich sagte: »Es ist wie beim Blechmann.« Er hob eine Augenbraue – ohne Anstrengung, als würde er das ständig tun. »Im Buch, nicht im Film. Er fängt als richtiger Mensch an, dann hackt er sich einen Arm ab und bekommt einen Arm aus Blech, und am Ende ist alles Blech.«
    Er lächelte mich an, und ich wusste, dass es mit unserer Freundschaft klappen würde. Und das tat es – wir rauchten und beobachteten vom Dach des Kunstgebäudes Schüler bei der Leichtathletik, wir waren Partner bei einem Filmprojekt für Englisch, und er malte eine Giraffe auf die Innenseite meines Spinds. In mein Jahrbuch schrieb er mit einem grünen Edding: »Liebste Lucy, sollte ich je von der bolivianischen Nationalgarde als Geisel gefesselt und gequält werden, wird mir die Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit helfen, die Schmerzen zu ertragen.«
    Als ich auf dem College war, schrieb ich ihm einige Male, bekam aber keine Antwort. Jemand erzählte mir, er sei vom Pomona College abgegangen.
    Und das ist das wirklich Grausige daran: Man weiß im Voraus, was als Nächstes passiert, weil es dem Klischee entspricht. Und es ist ein Klischee, weil solche Geschichten immer auf diese Art enden: Die arme Mutter versucht, die Scheiße aus der Unterhose des Kindes zu entfernen, bevor die Sanitäter kommen, und das ist der Teil der Geschichte, der immer wieder von früheren Klassenkameraden erzählt wird, wenn sie Collegeferien haben und nach Hause fahren. Man redet nicht darüber, wie er an die Waffe gekommen ist oder warum er es überhaupt getan hat oder wie oft er es vorher schon versucht hat, nur der Teil mit der Scheiße in seiner Unterhose und wie seine Mutter ihn mit einem Handtuch säuberte, als würde das noch etwas ausmachen, nur damit ihre Familie nicht vor dem Gerichtsmediziner blamiert wird.
    Zurück im College, nach der Beerdigung, schwang ich vor meinen Freunden große Reden darüber, wie ich es hätte stoppen können, wenn ich das Richtige gesagt hätte, wie oft ich die Gelegenheit dazu gehabt und sie nicht genutzt hatte. Aber ich war in dem Klischee gefangen, es war das Textbuch, das man benutzt, wenn jemand stirbt, und dabei meinte ich es überhaupt nicht ernst. Ich hätte ebenso gut sagen können: »Er war so jung, er hatte das ganze Leben noch vor sich!«, oder: »Es hätte mich treffen sollen!«, oder »Wie konnte ein guter Gott so etwas Schreckliches geschehen lassen?« Ich hätte bei keinem dieser Sätze etwas

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