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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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Tisch hinweg an und versuchte, mir in die Augen zu schauen. Als Kind hatte ich oft genug The Music Man gesehen, um lächelnden Musikern zu misstrauen, der Art, wie sie tänzelnd und singend in die Bibliothek kamen, die Aktentasche schwangen und zu dir sagten, du sollest spontan sein. Wie sie dir erzählten, diese ganze beschissene Stadt könnte mit ein bisschen Glück und einer guten Blaskapelle gerettet werden.
    Um die Stille zu füllen, hätte ich fast angefangen, Glenn von Ians Wutanfall zu erzählen, entschied mich aber dagegen. Ich hatte Rocky schon damit gelangweilt, der den Jungen immerhin kannte und mein Kollege war. Wie viel mehr würde ich jemandem damit auf die Nerven gehen, der sich nicht im Geringsten dafür interessierte? Und unter den fünfhundert dummen Entscheidungen, die ich in diesem Winter traf – Entscheidungen, die direkt zu Gefängnis oder noch Schlimmerem führten –, hat mir diese betrunkene, halb willkürliche Entscheidung vermutlich das Leben gerettet.

10
    Dumm
    Ich stellte mir in jenem Winter, nachdem ich die Origami-Mail gelesen hatte, die Aufgabe, Ian objektiv zu betrachten. Ich bildete mir, glaube ich, nicht nur ein, dass seine Augen stumpf geworden waren oder er sich angewöhnt hatte, hin und her zu schwanken, wenn er von einem Fuß auf den anderen trat, als müsse er dringend auf die Toilette. Er war schon immer launisch gewesen, aber früher hatte er geschwankt zwischen guter Laune und leicht manischen Stimmungen, doch davon war jetzt nichts mehr zu merken. Anfang Januar gab ich ihm Der Bote des Königs oder Die Suche nach dem Köstlichen ,und er brachte es am Tag darauf schon zurück.
    »Es war zu langweilig«, sagte er. »Ich habe aufgehört zu lesen.« Ich war schockiert. Der Bote des Königs ist ein Buch, das meine besten Leser an einem Tag verschlingen und für das sie sogar aufs Abendessen verzichten, wenn es sein muss.
    »Na gut, und was möchtest du jetzt?«
    »Etwas anderes Dummes.«
    »Du möchtest etwas Dummes lesen?«
    »Na ja, es ist alles dumm, also ist es mir schon egal. Ich lese sogar ein Buch für Babys.« Er quetschte sich mit dem Hinterteil in einen Plastikstuhl, der für dreijährige Kinder bestimmt war, und ohne hinzusehen, nahm er Blaubeeren für Sal in die Hand. Er blätterte es so schnell durch, dass ich Angst bekam, er würde die Seiten zerreißen. »Dieses Buch ist das klügste Buch, das es je gab. Dieses Buch ist genial. Dieses Buch ist zu schwer für mich. Jippie.« Er legte es waagerecht auf den Stapel der anderen Bilderbücher.
    An einem anderen Tag kam er die Treppe heruntergepoltert, noch mit geschlossenem Anorak. »Sag ihr nicht, dass ich hier unten bin«, flüsterte er, lief an meiner Theke vorbei und verschwand in den Gängen. Ich hatte sein Gesicht nur eine Sekunde lang gesehen, es war mir nicht erschrocken vorgekommen, aber auch nicht wie das Gesicht eines spielenden Kindes. Es hatte ausgesehen, als versuche er, böse zu sein.
    Eine Minute später kam Mrs Drake die Treppe herunter, so schnell es ihr mit ihren hohen Absätzen überhaupt möglich war, sie trug Jeans und einen grauen Kaschmirpullover. »Entschuldigen Sie, Sarah-Ann, haben Sie Ian gesehen, meinen Sohn?« Meine Güte, war sie dünn. Ihre Ellenbogen waren die breitesten Stellen an ihren Armen.
    Ian konnte mich von seiner Position aus nicht sehen, ich deutete wortlos auf den Gang mit den Biographien. Sie verschwand in dem Gang, in dem Ian war, und nachdem ich sein lautes Geschrei gehört hatte, sah ich, wie sie ihn zurück zur Treppe zerrte, pinkfarbene Nägel um seine Schultern. Ians Stimme hallte im Treppenhaus nach: »Aber Mom, du kannst mit mir doch nicht böse sein, weil ich – au! – ich habe es doch gleich bereut, als ich mich versteckt habe! Mom, ich habe es schon bereut, du darfst nicht böse auf mich sein!«
    Ich hätte besser aufpassen müssen, damals, ich hätte auf seine Heimlichtuerei aufpassen müssen, seine Gerissenheit, seinen Hang, sich zu verstecken. Es hätte mir auch auffallen müssen, als er mich in der Woche darauf nach dem Hausmeister ausfragte. Er stand vor meiner Theke, mit einem betont gelangweilten Gesicht, und sprach mit monotoner Stimme.
    »Wer putzt diese dumme Bibliothek?«
    »Tut mir leid, Ian, das verstehe ich nicht.«
    »Ich habe gefragt, wer die Bibliothek putzt.«
    »Eine sehr nette Dame namens Mrs Macready. Sie kommt und saugt Staub. Sie hat weiße Haare.«
    »Putzt sie jeden Tag?«
    »Ich habe keine Ahnung. Vermutlich nicht, eher jeden

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