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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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empfunden, ich hätte nur das Rezitieren genossen.
    Nach etwa fünf Jahren traf es mich so schwer und hart wie Darrens Bleibrockenherz: Da war es meine Schuld, genauso wie die der anderen, und es gab etwas, das ich hätte sagen können. Als Brian Willis im Matheunterricht einen Witz machte, Darren sei deshalb zu spät gekommen, weil jemand seine Seife in der Dusche hatte fallen lassen, ein typischer pubertärer Schwulenwitz, hätte ich aufstehen und in sein rotes, geschwollenes Gesicht schlagen sollen.
    Das ist es also, mein tiefsitzendes Motiv, das ich auf Ian projizierte, meine herzzerreißende Ausrede. Es würde hart sein, die Geschworenen zu überzeugen, dass dies die einzige Rechtfertigung für das ist, was ich getan habe. Doch ich glaube, es hat mich als Person wütender gemacht. Zumindest muss man akzeptieren: Ich war, trotz eines privilegierten Lebens und trotz eines Sinns für Humor, eine wütende Person. Ich genoss es, andere Menschen zu beschuldigen. Wenn ich von solchen Idioten wie Pastor Bob hörte, kochte ich vor Wut. Ich kochte buchstäblich. Noch Wochen danach beschimpfte ich, wenn ich in meinem Auto saß, alle Pastor Bobs dieser Welt mit einem Monolog, der für die Fahrer vor mir im Rückspiegel wie eine leidenschaftliche Tirade auf einen früheren Liebhaber ausgesehen haben muss.
    Jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit wurden meine Schimpftiraden unterbrochen, wenn ich Janet Drake sah, die den Waxwing Boulevard entlangjoggte, trotz der vereisten Bürgersteige. In den letzten zwei Jahren hatte ich sie wahrscheinlich jeden Tag gesehen, ohne zu begreifen, dass es sich immer um dieselbe Person handelte, im selben pinkfarbenen Jogginganzug, dieselben spitzen Ellenbogen, bis ich mit ihr gesprochen hatte. Sie lief immer in Richtung Norden, zurück zu sich nach Hause. Sie wohnten in der Nähe der Bibliothek, und ich fuhr immer zehn Minuten vor Arbeitsbeginn an ihr vorbei. Wie weit war das? Welche Strecke hatte sie schon hinter sich, wenn ich sie sah? Sie war auch oft abends im Fitnesscenter, wenn ich nach der Arbeit um viertel nach sechs eintraf, und sie war auch noch dort, wenn ich es verließ und schnell vorbeilief, in der Hoffnung, sie würde mich nicht erkennen. Wo nahm sie denn bloß die Zeit her, so dominierend zu sein?
    »Miss Hull?«
    »Ja, Ian?«
    Er beugte sich über die Theke, stützte sich mit dem Oberkörper ab. Sonja war oben, wo sie bei ihren Bibliotheksbesuchen immer mehr Zeit verbrachte. Ich fragte mich, ob sie Ian wirklich vertraute oder ob sie sich ganz einfach nicht für Janet Drakes Anweisungen interessierte. Sie war wohl der Meinung, dass Ian hier unten Noahs Mission spielte. Da es draußen kalt war, hatte er ein neues System entwickelt, er versteckte je ein Buch vorn und hinten in der Hose, und sein Anorak verdeckte beide.
    »Ist die Bibliothek an Weihnachten offen?«
    »An Weihnachten? Nein, wir haben vom 24. bis 26. geschlossen. Heute ist der letzte Tag, um sich noch etwas auszuleihen.«
    Er ließ sich auf den Boden fallen, so dass ich ihn nicht sehen konnte. »Du willst mir sagen, dass an beiden Tagen geschlossen ist? Ihr habt also drei ganze Tage geschlossen?«
    »Ja.«
    Er stand wieder auf, sein Gesicht gerötet und verzogen wie bei einem zweijährigen Kleinkind. Mit einer berechnend dramatischen Bewegung verschränkte er seine Arme und drehte sich von mir weg.
    »Ian, es sind nur drei Tage.«
    Sein Atem war schnell und laut, seine Schultern hoben und senkten sich.
    »Ian?«
    »Das ist nicht fair!«, schrie er, und die Mutter, die ihrem Hosenmatz vorlas, drehte sich um, um zu sehen, was los war.
    »Ian.« Ich kam hinter der Theke hervor und legte meine Hände auf seine Schultern. Er drehte mir den Rücken zu. Ich hatte schon erlebt, wie melodramatisch er sich gegenüber Sonja verhalten hatte, und Sophie Bennett hatte mir erzählt, seine Lehrer fänden ihn in diesem Jahr besonders nervtötend, doch mit mir hatte er so etwas noch nie gemacht. Ich sah ihm durch die verschränkten Arme ins Gesicht. Er weinte in Wirklichkeit gar nicht, er seufzte und stöhnte nur laut.
    »Weißt du, Ian«, sagte ich, »du kannst dir einen Haufen Bücher ausleihen, bevor wir schließen, und sie zurückbringen, sobald wir wieder aufhaben.«
    »Das stimmt nicht«, sagte er, »weil wir nämlich wegfahren. Für fast eine ganze Woche, bis Neujahr, und meine Mutter wird meinen Koffer kontrollieren. Ich müsste mir dann blöde Bücher ausleihen, wie die Hardy Boys , und außerdem könnte ich sowieso nur zehn

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