Ausgeliehen
abwechselnd auf die Nerven und brachte mich zum Weinen, und außerdem hatten wir ihn beide schon hundertmal gesehen.
(George Bailey, verzweifelt: »Sag mir, wo meine Frau ist.«
Clarence, der Engel, von Krämpfen, Entsetzen und Trauer geschüttelt: »Es wird dir nicht gefallen, George. Sie wird die Bibliothek abschließen! Jetzt!«
Nun rennt sie mit ihren dicken Brillengläsern los, die Bücher an ihre nutzlosen Brüste gepresst. Mary Bailey, dieser Alptraum, hat sich ihr Augenlicht durch die vielen Stunden des Lesens in der Dunkelheit ruiniert.
Wie komisch, dass ausgerechnet dieser Beruf mit Einsamkeit, Jungfräulichkeit und mit weiblicher Verzweiflung zusammengebracht wird. Die Bibliothekarin in ihrem Rollkragenpulli. Sie hat ihre Heimatstadt nie verlassen. Sie sitzt an der Ausgabetheke und träumt von Liebe.)
»Eigentlich wollte ich dich um einen Gefallen bitten.«
»Was denn?« Ich nahm einen großen Bissen von meiner Pizza, damit ich Zeit schinden konnte, falls es nötig wäre.
»Die Hochzeit meiner Kusine in Kansas City. Am 25. März, glaube ich. Ein Samstag.«
Jetzt musste ich runterschlucken, um sicher zu sein, dass ich die richtige Antwort gab. »Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit oder eine weibliche Begleitung?«
»Ich habe nichts gegen eine Mitfahrgelegenheit, aber eigentlich dachte ich an die weibliche Begleitung.«
Ich biss wieder in meine Pizza. Drei Dinge fand ich nicht lustig: eine Hochzeit, bei der ich niemanden kannte; die lange Fahrt nach Kansas City; mir Gedanken darüber machen, was die Sache für Rocky bedeuten könnte.
»Du kannst nein sagen. Ich brauche keine Begleitung. Ich fände es nur lustig.«
»Ich eigne mich nicht für so etwas. Du hast mich ja beim Wohltätigkeitsfest gesehen, ich habe mich mit dem Pianisten und dem Barkeeper unterhalten, statt mit den Spendern.« Ich weiß nicht, warum ich so tat, als hätte ich Glenn nicht mehr gesehen – wir hatten uns nach dem Konzert noch zweimal getroffen.
»Die Leute sind wirklich sehr unkompliziert. Meine Kusine ist Wirtin in einem Pancake-Lokal, sehr bodenständig. Aber mach dir keinen Stress.«
»Mal sehen«, sagte ich. »Am 25. März … ich glaube, da bin ich in Chicago, aber ich muss nachschauen.« Das konnte ich immer so drehen, wenn es nötig war. In diesem Moment wurden wir von einem Baby übertönt, das an einem Nachbartisch anfing zu schreien. Ein wunderbares, gnädiges Schreien.
Ich habe gesagt, dass ich nie zuvor jemanden wie Ian getroffen hatte. Das war nur die halbe Wahrheit, eine meiner Spezialitäten. Hier folgt nun die große, verdrängte Erinnerung. Und ich muss noch nicht einmal dafür bezahlen, dass ich mich auf die Couch lege.
Im letzten Jahr an der Highschool lud mich mein Freund Darren ein, im Filmvorführraum eine Zigarette zu rauchen. Er war nicht wirklich mein Freund, noch nicht, zu cool für mich mit seiner ausgeleierten grünen Cordhose und den blonden, mit Kool-Aid pink gefärbten Haaren, aber wir hatten gemeinsame Fortgeschrittenenkurse und Begabtenförderung, das bedeutete, dass wir wie Freunde miteinander umgehen konnten, ohne die üblichen Vorstufen durchmachen zu müssen. Ich war noch nie in der Kabine gewesen – ich hatte zwar alle möglichen Spleens, aber das Audiovisuelle gehörte nicht dazu –, doch es war dort genau, wie ich es mir vorgestellt hatte: jede Menge Schalter und Lichter, eine alte Farbdose, halbvoll mit Zigarettenkippen. Ich wusste, dass Darren schwul war, sonst hätte ich gedacht, es handle sich um ein billiges Date. Er steckte uns Zigaretten an, und wir schauten durch das kleine Fenster hinaus auf die Sitze im Zuschauerraum, als würde dort gleich etwas passieren.
Er fragte mich, wie es mir ging – ich hatte ein paar Wochen zuvor einen Korb bekommen, drei Tage vor dem Schulfest –, und ich tat, als würde ich darüber hinwegkommen. Ich sagte: »Ich würde viel dafür geben, wenn ich lesbisch wäre.«
Darren sah geschockt aus, verwirrt, schrecklich gekränkt. »Tut mir leid«, sagte ich. »Ich meine, ich weiß doch, es ist wirklich hart …«
»Du weißt, dass ich schwul bin?« Natürlich wusste ich das. Die ganze Schule wusste das. Alle sprachen davon, wie mutig es von ihm war, dazu zu stehen. Mit Tratsch über sein Liebesleben konnte man in der Cafeteria ein verzücktes Publikum erreichen. »Ich habe es nur ein oder zwei Leuten erzählt«, sagte er, »wenn überhaupt.«
Also log ich. Ich sagte: »Ich habe ausgezeichnete Antennen dafür. Echt. Wenn ich mit dem
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