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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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Und weil er acht Jahre alt war, hatte er den Brief bebildert, er hatte den Grundriss des Kellers gemalt samt den Geräten, und seinen Vater hatte er vor einem Berg Schokoladentafeln gezeichnet. Ich habe den Brief nie gesehen, aber ich hatte immer das Bild seiner Zeichnung im Kopf! Es war so unschuldig, für die Lehrerin so etwas zu malen. Für mich ist das der traurigste Teil der Geschichte.«
    »Deshalb ist er also nach Sibirien geflohen«, sagte ich. Leo schaute mich ausdruckslos an. »Ich meine, mein Großvater«, fügte ich hinzu.
    »Nein. Machst du Witze? Nein. Dein Großvater wurde verhaftet, es gab einen lächerlichen Prozess, und er wurde in ein Arbeitslager deportiert. Sechs Monate später war er tot.«
    »Oh.«
    »Ja, ich meine, er war in Sibirien. Alle Arbeitslager waren in Sibirien.«
    »Ich weiß.«
    »Sie bauten natürlich kein Denkmal für Jurek Hulkinow, es wurden auch keine Lieder über ihn geschrieben, und sogar nach der Verhaftung seines Vaters erwähnte die Lehrerin mit keinem Wort seinen Brief. Die Polizei verhörte ihn und so weiter, es gab aber so viel Beweismaterial, dass er im Prozess nicht aussagen musste. Ich glaube, dass sogar seine Mutter nicht wusste, was Jurek getan hatte. Ich bin ziemlich sicher, dass ich der Einzige bin, der Bescheid weiß.«
    Auf der Mauer unter der Treppe vermischten sich Farben, die mit Sicherheit nicht da waren, und meine Kehle war von den Frettchen wie zugeschnürt. Obwohl ich, seit ich fünfzehn war, keinen Asthmaanfall mehr gehabt hatte, war meine Kehle zu. Ich hatte das Gefühl, dass ich mein Leben zum Anfang zurückspulen musste, um es noch einmal anzuschauen und zu sehen, was ich verpasst hatte. Zum Beispiel die Geschichte von der Flucht meines Vaters. Die Kartoffel im Auspuffrohr war mit Sicherheit eine Lüge, ebenso wie die Schokolade. Ich wusste, dass er mit zwanzig Jahren nach Amerika gekommen war, weil … Nein, noch nicht einmal das wusste ich. Also fragte ich.
    »Ja, dein Vater war zwanzig, vielleicht einundzwanzig. Er war entsetzt von dem, was er getan hatte. Es war nicht die UdSSR , vor der er floh, das verstehst du jetzt. Ich kam drei Jahre später hierher. Ja, er war zwanzig. Lucy, du siehst nicht gut aus.«
    »Es geht mir gut.«
    »Weißt du, das ist keine ungewöhnliche Geschichte«, sagte er, als wolle er mich beruhigen, und ich wusste nicht, warum. »Das hier ist eine Nation von Flüchtlingen. Jeder kommt von irgendwoher. Sogar die Indianer kamen vor langer Zeit über die Landbrücke aus Alaska. Die Schwarzen, gut, die sind nicht aus Afrika geflohen, aber sie sind vor der Sklaverei geflohen. Und der Rest von uns, wir sind alle vor irgendetwas weggelaufen. Vor der Kirche, dem Staat, den Eltern, dem irischen Kartoffelkäfer. Und ich glaube, das ist der Grund, warum die Amerikaner so unstet sind. Ich denke, auch Anja hat das Blut von Flüchtlingen in sich. Nur gibt es in Amerika keinen Ort mehr, wohin man fliehen könnte. Lucy, Kopf hoch. Du siehst sehr krank aus.«
    »Ich könnte noch einen Kaffee vertragen.«
    Wir gingen nach oben und sahen, dass Ian schon viel freier atmete, seine Schultern waren nicht mehr hochgezogen, und Marta erzählte ihm von Babka, Kissel und Paschka.
    »Wir haben das Thema nicht gewechselt, es geht immer noch um Nachtische«, sagte Ian, und ich war erleichtert zu hören, dass er einen ganzen Satz sagen konnte. Wir setzten uns zu ihnen, und Marta goss allen Kaffee ein. Ich verbrannte mir die Zunge und schaffte es, in der folgenden Stunde mein betäubtes Hirn auf dieses Gefühl zu konzentrieren: Ich drückte die Zunge gegen die Zähne und spürte nichts. Ich drückte die Zunge gegen den Gaumen und spürte nichts. Ich biss mir auf die Zungenspitze und spürte etwas. Dann fing ich wieder von vorn an.
    Um halb fünf Uhr morgens gingen wir endlich alle ins Bett. Wir setzten Ian mit sechs Kissen ins Gästebett. »Du bist ein Prinz auf der Sänfte«, sagte Leo.
    »Sänfte?«
    Die Labaznikows lachten, ohne das Wort zu erklären, und Ian schien es nichts auszumachen. Ich war zu müde, um zur Schuhschachtel zurückzugehen, aber ich nahm mir vor, sollte ich früher als die anderen wach sein, würde ich es noch einmal probieren.

26
    Ein Glas für Glass
    Als mich Ian weckte, war es schon halb zehn, Geschirr klirrte, und in der Küche brutzelte duftender Schinkenspeck in der Pfanne. Ian war hereingekommen, ohne zu klopfen, fertig angezogen, aber mit einem Handtuch um den Kopf gewickelt wie ein Turban. »Miss Hull!«, sagte er. Sein

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