Ausgelöscht
gelesen?«
»Klar.«
»Wie hat er reagiert?«
»Er hat ›Danke‹ gesagt, total cool. Wenn Sie mich fragen, er wusste, dass sie was nebenbei laufen hatte. Er hat wahrscheinlich selbst was nebenbei laufen.«
»Hat er dir irgendwelche Fragen gestellt?«
»Nur, wie ich an den Brief gekommen bin.«
»Hast du es ihm gesagt?«
»Nö.«
»Warum hast du ihm den Brief gegeben?«
»Keine Ahnung.«
»Warst du wütend auf deinen Vater und Grace Baxter?«
Kyle fing wieder an, mit den Füßen zu trommeln. Er sah zur Tür des Vernehmungszimmers. »Kommen die jetzt endlich mit dem Methadon rüber?«
»Noch ein paar Minuten«, sagte Clevenger. Er wartete einen Moment. »Warst du wütend auf deinen Vater?«
»Nicht sonderlich.«
Clevenger beschloss, es anders zu versuchen. »Du und dein Dad, ihr hattet keine wirkliche Beziehung, bis vor kurzem.«
»Er hat mich gehasst«, erklärte Kyle tonlos. »Das ist auch eine Beziehung.«
Das wusste Clevenger aus erster Hand, von seinem eigenen Vater. »Hast du ihn auch gehasst?«
Kyle lächelte. »Ich hab mir immer ausgemalt, wie ich ihn umbringen würde. Beantwortet das Ihre Frage?«
»Und wie wolltest du ihn umbringen?«
»Ihn erschießen.« Er schmunzelte und schüttelte den Kopf. »Schon komisch, wie sich die Dinge manchmal entwickeln.«
Clevenger schwieg.
Kyle wischte sich die Stirn ab. »Ich kann echt nicht mehr.«
Clevenger stand auf und ging zur Tür. Er öffnete sie und winkte den Wärter, der draußen im Korridor saß, heran.
Der Wärter stand auf und kam herüber.
»Wo bleibt das Methadon?«, fragte Clevenger.
»Es hätte schon längst hier sein sollen, Doc«, antwortete der Wärter. »Ich rufe gleich noch mal auf der Krankenstation an.«
Clevenger kehrte in das Vernehmungszimmer zurück und setzte sich wieder Kyle gegenüber. »Du wurdest um die Zeit herum, als dein Vater getötet wurde, in der Nähe des Mass General gesehen.«
»Zu schade, dass ich nichts davon gewusst habe. Ich hätte zuschauen können.«
Clevenger sah ihm in die Augen und glaubte ihm. Vielleicht hatte Kyle Snow gesehen, wie sein Vater erschossen wurde, vielleicht auch nicht. Aber er hätte den Anblick ganz sicher genossen. »Weißt du irgendetwas über das Projekt, an dem dein Vater gearbeitet hat, bevor er starb?«, fragte er.
»Ich hab keine Ahnung, was es war. Ich weiß, dass es ihn bis letzten Monat oder so total irre gemacht hat.«
»Woher weißt du das?«
»Weil er immer total ausgerastet ist, wenn die Dinge nicht liefen. Dann ist er die ganze Nacht aufgeblieben, ist herumgetigert, hat einen Spaziergang durchs Viertel gemacht. Lauter so Zeug. Und dann ist es schlagartig vorbei gewesen. So als wär ihm endlich der Durchbruch gelungen oder so. Man konnte es an der Art sehen, wie er ging. Irgendwie beschwingter. Und seine Stirn. Die konnte monatelang gerunzelt sein, so als wollte er was Kleingedrucktes lesen, das einfach zu winzig war. Aber wenn er mit einem Projekt fertig war, dann verschwanden auch die Falten. Und genau das taten sie diesmal.«
»Du hast ihn ziemlich gut durchschaut«, sagte Clevenger.
»All die Jahre über, als er nicht mit mir gesprochen hat, als er mich kaum eines Blickes gewürdigt hat, hab ich ihn beobachtet und versucht herauszufinden, was in seinem Kopf vor sich ging, was nicht stimmte. Total blöd.«
»Warum?«
»Weil es keine Rolle spielte. Ich hab versucht, einen Zugang zu ihm zu finden. Es gab keinen. Nicht für mich jedenfalls.«
»Was ist mit Lindsey?«, fragte Clevenger.
»Was soll mit ihr sein?«
»Hat sie das Gleiche für deinen Vater empfunden?«
»Nee. Sie hat ihn angebetet. Er hat sie angebetet. Bis zu dieser Sache.«
»Der Affäre.«
»Das war nicht die ganze Geschichte. Er war anders. Menschlicher. Dass er sich mit Grace Baxter eingelassen hat, war nur ein Teil davon. Die Tatsache, dass er sich plötzlich mit mir verstand – das gehörte auch dazu. Und weil er plötzlich mehr Mensch war, hat er angefangen, meiner Schwester die Hölle heiß zu machen. Dass sie sich die ganze Nacht über mit irgendwelchen Jungs herumtrieb. Er hat versucht, ihr Vorschriften zu machen. Vorher hat er nicht einmal gemerkt, wenn sie morgens um vier nach Haus gekommen ist. Das hat ihr gar nicht gefallen, das kann ich Ihnen flüstern.«
»Warum wollte sie nicht, dass du und dein Vater euch besser versteht?«
»Hören Sie, ich bin nicht blöd. Auch wenn mein Intelligenztest das sagt. Sie konnte es nicht ertragen, dass mein Dad mir so viel Aufmerksamkeit
Weitere Kostenlose Bücher