Ausgelöscht
war ein wiederkehrendes Thema. Collin Coroway, Lindsey und Kyle waren alle überzeugt, dass sie gemeinsam John Snow das Leben unerträglich gemacht hätten. Vielleicht hatte ihn das letztendlich dazu getrieben, sein Heil auf dem Operationstisch zu suchen. Vielleicht hatte er eine Zeit lang wirklich geglaubt, dass er durch Grace Baxters Liebe wieder geboren werden könnte. Und als sich sein Leben um ihn herum immer enger zog wie eine Schlinge, kam er zu dem Schluss, dass ein Skalpell der einzige Weg wäre, um sich zu befreien.
Doch eine wichtige Frage blieb: Wenn Grace Baxter John Snow so sehr liebte, dass sie einen Abschiedsbrief schrieb, als sie ihn verlor – wenn sie seine
Lovemap
war und er die ihre –, warum war diese Liebe dann nicht stark genug gewesen, alles zu überwinden? Warum bedeutete die Entlarvung ihrer Affäre deren Ende?
Ein Teil des Puzzles fehlte.
Clevenger blickte in Kyle Snows Augen und sah sein eigenes Spiegelbild. Und obgleich er wusste, dass er hier war, um zwei Todesfälle zu untersuchen, obgleich er wusste, dass Kyle ein Verdächtiger war, kein Patient, kam er doch nicht umhin zu sehen, welche Qualen Kyle litt. Clevenger konnte den Schmerz tief in sich fühlen. Das war seine Gabe, das war das Kreuz, das er zu tragen hatte: Er nahm das Leiden anderer in sich auf. Es war diese Gabe gewesen, die ihn einst dazu getrieben hatte, sich in Alkohol, Drogen und Glücksspiel zu verlieren. Und es war diese Gabe, die ihn jetzt veranlasste, auf seinem Stuhl sitzen zu bleiben. Denn er hatte von Kyle Snow alles bekommen, was es zu bekommen gab. Jetzt verspürte er den Drang, etwas zurückzugeben. »Du glaubst, du würdest dich besser fühlen, jetzt, wo dein Vater nicht mehr da ist? Stimmt’s?«, fragte Clevenger.
»Kann man so sagen.«
»Da irrst du dich.«
»Der einzige Mensch, dem je an mir gelegen war, war meine Mutter. Und jetzt gibt es nur noch unsere Mutter und Lindsey und mich. Und ich fühle mich bereits besser.«
»Vielleicht tust du das, für eine Woche. Vielleicht zwei. Aber dass dein Vater ausgelöscht wurde, ändert trotz allem nichts an der Tatsache, dass er noch immer in dir ist.«
»Ich habe diesem New-Age-Mist nie viel abgewinnen können.«
»Nebenbei bemerkt, das ist auch der Grund, warum du die Oxys nimmst. Du speist damit den Teil von dir ab, der dein Dad ist, den Teil, der denkt, dass du wertlos bist, dass du besser nie geboren worden wärst.«
»Es gibt da draußen jede Menge Oxys.«
Clevenger schmunzelte. Auch er hatte einst gedacht, dass er kein Problem habe, solange er nur über genug Schnaps und Koks verfüge, um es zu besänftigen. »Es gibt auf der ganzen Welt nicht genug Oxycontin, um dieses Gefühl zu überwinden. Nicht auf lange Sicht. Das geht nur, indem du endlich anfängst, eigenständig zu denken – und zu fühlen.«
Kyle verdrehte die Augen und wandte den Blick ab.
»Mein Vater hat einen Gürtel benutzt, um mich zu überzeugen, dass ich kein Recht zu leben hätte. Ich denke, das war wahrscheinlich leichter zu ertragen, als ignoriert zu werden. Wenn man ignoriert wird, fängt man an, sich zu fragen, ob man überhaupt existiert. Ich wusste das. Die blauen Flecken waren zumindest ein Beweis …« Er schloss die Augen, als die Erinnerung ihn übermannte. Als er sie wieder aufschlug, sah er, dass Kyle ihn anschaute. »Also, was kannst du?«, fragte ihn Clevenger. »Warum bist du auf diesem Planeten?«
»Ich bin ein Könner darin, mich festnehmen zu lassen. Das macht mir so schnell keiner nach.«
Clevenger sah ihn unverwandt an. Die Sekunden verstrichen. Komm schon, drängte er im Stillen, gib schon auf. Weitere Sekunden verstrichen. Er wollte gerade selbst aufgeben, kapitulieren, als Kyle schließlich sprach.
»Ich kann ganz gut zeichnen«, sagte er, und all sein Macho-Gehabe verpuffte, als er diese Worte aussprach, so dass ein Junge zurückblieb, der erschreckend verletzlich aussah und klang. Wie ein im Lichtkegel von Autoscheinwerfern gefangenes Reh. »Ich schätze, das habe ich von meiner Mutter.«
»Was zeichnest du denn so?«
»Architektur-Sachen, wie sie. Ich bin ziemlich gut. Ich meine, ich glaube, dass ich es bin.«
»Weiß sie das?«
»Nein.«
»Vielleicht solltest du es ihr erzählen.«
»Ja, vielleicht sollte ich das«, pflichtete er halbherzig bei.
Clevenger wusste genau, was Kyle Snow an diesem Vorschlag solche Probleme bereitete. Die Liebe seines Vaters war die Trophäe gewesen, die er insgeheim zu erringen gehofft hatte. Aktiv um die
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