Ausgelöscht
Zuneigung seiner Mutter zu buhlen würde bedeuten, dass er die seines Vaters ein für alle Mal verloren hatte. »Ich werde dir jetzt mal rundheraus etwas sagen, Kyle«, sagte Clevenger, »denn ich glaube nicht, dass eine reelle Chance besteht, dass du dich je hundert Stunden mit einem Seelenklemper zusammensetzt und von selbst draufkommst: Dein Vater war unfähig, irgendjemanden zu lieben. Er verehrte Schönheit und Perfektion. Er verehrte seinen eigenen Verstand. Aber mit sich selbst oder mit irgendjemand anderem, deine Schwester eingeschlossen, in seiner Gesamtheit, als vollständiger Mensch, damit konnte er nichts anfangen. Vielleicht hätte Grace Baxter das zurechtbiegen können, vielleicht auch nicht. Wie es sich herausstellte, war es zu spät.«
Kyle starrte auf den Tisch und zuckte mit den Achseln.
»Also musst du dich jetzt selbst lieben«, fuhr Clevenger fort. »Eine andere Möglichkeit bleibt dir nicht. Du musst dich auf jedes Talent besinnen, das du besitzt, jede Gabe, mit der du in der Welt um dich herum etwas bewirken kannst. Und du musst das Wagnis eingehen, etwas bewirken zu wollen. Wenn du das tust, dann wirst du viel zu beschäftigt sein, um weiter dem Oxycontin nachzujagen. Denn du wirst nicht mehr damit beschäftigt sein, dich zu hassen.«
»Ja ja«, sagte er.
Clevenger verspürte den spontanen Drang, den Platz als Kyles Ersatzvater einzunehmen. Lag es daran, dass Kyle ihn tatsächlich brauchte?, fragte er sich. Oder lag es daran, dass Clevenger wünschte, jemand hätte für ihn dasselbe getan? Wie auch immer, er konnte nicht widerstehen. »Sobald die Ermittlungen abgeschlossen sind, würde ich mir sehr gern deine Zeichnungen anschauen«, erklärte er Kyle. »Ich habe einige Freunde mit Architekturbüros. Ich bin sicher, dass sie bereit wären, mit dir über die Branche zu reden.«
»Immer vorausgesetzt, dass Sie mich nicht als Mörder verhaften lassen, meinen Sie«, entgegnete Kyle.
Clevenger hörte die gänzlich andere Frage, die hinter dieser augenscheinlich saloppen Bemerkung verborgen war, die Frage, wie weit Clevenger gehen würde, um Kyle Snows Vater zu spielen. Würde er ihn der Polizei ausliefern, wenn sich herausstellen sollte, dass er schuldig war? Da begriff er, wie wichtig es war, dass er nicht so tat, als ob Kyle sein Patient wäre, von seinem Kind ganz zu schweigen. Er befand sich in der gleichen Gefahr wie mit Lindsey Snow – der Gefahr, sich in der emotionalen Dynamik der Snow-Familie zu verlieren. Er sah Kyle in die Augen. »Wenn ich dich wegen Mordes verhaften lassen muss, mein Freund«, erklärte er, »dann hast du alle Zeit der Welt zum Zeichnen. Ich würde mir die Sachen dann aber immer noch gern ansehen.«
North Anderson erwartete Clevenger bereits im Eingangsbereich des Gefängnisses, als er herauskam.
Clevenger ging auf ihn zu.
»Coady hat mir gesagt, dass du hierher unterwegs wärst«, erklärte Anderson. »Ich hab was herausgefunden, was du wissen solltest.«
»Was?«
»Ich hab angefangen, mir die Vorstände der größeren Rüstungsunternehmen anzuschauen, in der Hoffnung, irgendjemanden zu finden, den ich kenne, damit er uns hilft, der Sache mit Vortek auf den Grund zu gehen. Ich habe keine bekannten Namen entdecken können, eingeschlossen Lockheed, Boeing und Grumman. Also hab ich mich entschieden, beim Schatzamt vorbeizuschauen, mir Snow-Coroway Engineerings Jahresbilanzen zu besorgen und mal einen Blick auf deren Aufsichtsrat zu werfen.«
»Und?«
»Keine wirklichen Überraschungen. Coroway, Snow, ein Risikokapital-Knabe von Merrill Lynch und ein Harvard-Professor – deren hauseigenes Computergenie, ein Bursche namens Russell Frye. Der einzige Name, der herausstach, war Byron Fitzpatrick, der sich als ehemaliger Außenminister unter Ford entpuppte. Aber ich schätze, der Typ gehört wahrscheinlich zweihundert Aufsichtsräten an.«
»Möglich«, sagte Clevenger, »aber er ist auch der Vorstandsvorsitzende von InterState Commerce, dem Unternehmen, dem Coroway gestern in Washington einen Besuch abgestattet hat.«
»Dann gibt es da eindeutig einige interessante Verbindungen. Denn mein nächster Zwischenstopp war bei meinem Kumpel von der Finanzbehörde von Massachusetts. Er hat für mich mal einen Blick in Snow-Coroways Steuererklärungen für die letzten fünf Jahre geworfen. Rate mal, wer 2002 zehn Prozent des Unternehmens gekauft hat?«
»Ich bin Psychiater, kein Hellseher.«
»Die Beacon Street Bank.«
Die Wucht dieser Information ließ Clevenger
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