Ausgesaugt
noch etwas wacklig auf den Beinen. Aber ich hab’s ja nicht eilig. Ich lasse mich zurückfallen und folge dem Schein der Taschenlampen, die die beiden mitgebracht haben. Jetzt, wo wir die Gleise erreicht haben, sehe ich, dass es oben Nacht ist. Jenseits der Lüftungsschächte ist der blauschwarze Himmel zu erkennen, das Mondlicht wird von der Helligkeit der Stadt verschluckt. Am späteren Morgen werden grelle Lichtkegel durch den Dunst schneiden. Man kann die scharfen Kanten dieser Kegel genau erkennen – die Trennlinie, hinter der mich die Krebsgeschwüre erwarten.
Der Strahl einer Taschenlampe fällt auf ein paar Worte an der Wand. OBSOLETE MACHINE steht da. Daneben ein Propagandagemälde für den American Way of Life und eine Zeichnung von Dick Tracy, der gerade einen Bewaffneten aus dem Bild schubst und Weg mit der Waffe, Schurke! schreit. Dann das Plattencover von Dark Side of the Moon, darunter die Textzeile »You shout and no one seems to hear«. Das Porträt des Unabombers, eines meiner Lieblingskunstwerke.
Ich rauche und trete ein paar Steine aus dem Weg. Ich würde ja gerne anmerken, dass ich an Evie denke, aber das ist wohl überflüssig. Sie ist mein Tinnitus. Immer präsent, ein ständiges weißes Rauschen in meinem Hirn. Unauslöschlich. Wenn man sich darauf konzentriert, übertönt es alles andere. In diesem Fall übertönt er jeglichen Gedanken an den einzigen Typen hier unten, dem ich Lebewohl sagen sollte, bis Chubby stehen bleibt, um die Krawatte zu lockern.
Täusche ich mich, oder wird es hier wärmer?
Dann spüre ich es auch. Ich hätte es eigentlich lange vor dem Fettsack merken müssen.
Hitze und Kohlendioxid sind untrügliche Lebenszeichen; und die Kreatur, die da in der Dunkelheit jenseits der Reichweite der Taschenlampen keucht, macht uns in dieser stillen Sprache klar, dass sie sehr wohl am Leben ist.
Oder kurz davor ist zu sterben.
Oder beides.
Ich bleibe stehen.
– Chubs, du und der Junge, ihr geht schon mal vor.
Er dreht sich um und sieht mich an. Der Strahl seiner Taschenlampe wandert über den Steinboden.
– Joe, Geschwindigkeit ist das Gebot der Stunde.
Ich starre in die Dunkelheit und frage mich, ob sie im nächsten Moment explodiert.
– Bei dem Tempo, das ihr draufhabt, werde ich euch schon einholen.
– Wäre schade, dich zu verlieren, nachdem ich dich gerade erst gefunden habe.
Ich mache einen Schritt auf die dunkle Hitze zu.
– Himmelarsch, Chubby, sieh zu, dass du aus dem Tunnel rauskommst. Sofort.
Chubby war schon immer ein fixes Bürschchen. Er kapiert sofort, was ich meine, spart sich jeden Kommentar und nimmt Dallas an der Hand. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg aus dem Tunnel, und das in einem weit höheren Tempo als zuvor.
An die Knarre brauche ich gar nicht zu denken. Ich habe keine Waffen bei mir, die es mit ihm aufnehmen könnten. Außerdem glaube ich nicht, dass er vorhat, mich zu töten. Eine gewagte Vermutung bei einem völlig Wahnsinnigen, aber ich verlasse mich einfach auf frühere Erfahrungen. Bisher hat er mich nämlich noch nie umgebracht.
Ich spüre einen Luftzug, es wird noch heißer, dann ein weißer Schemen, und schon steht er vor mir.
– Kumpel, hey, Kumpel! Wo willst du hin, Kumpel?
Offenbar hat er seit unserer letzten Begegnung beschlossen, völlig auf Kleidung zu verzichten. Keine Ahnung wieso. Möglicherweise hat er endlich kapiert, dass es ziemlich sinnlos ist, hier unten Weiß zu tragen. Oder er ist so dünn geworden, dass er nichts mehr auftreiben kann, was nicht sofort an ihm runterrutscht. Letztes Mal hatte er wenigstens noch einen Lendenschurz und ein paar schmutzige Lappen am Leib, die er wie Bandagen um seine Gliedmaßen geschlungen hatte. Inzwischen ist er jedoch so bleich, dass er die weiße Uniform gar nicht mehr nötig hat.
Er ist so weiß wie die Kacheln der U-Bahn-Tunnel. Glänzendes Porzellan unter einer dünnen Dreckschicht.
Der Begriff ausgemergelt wird ihm nicht mal mehr im Ansatz gerecht. Ich kann die Muskelstränge und Sehnen unter seiner Haut erkennen. Die Blutgefäße wirken wie ein großflächiges, verästeltes Tattoo, das sich über seinen ganzen Körper erstreckt.
Er steht auf der Schwelle.
Was auch immer die Enklavemitglieder vorhaben, wenn sie sich selbst zu Tode hungern – er ist kurz vor dem Ziel.
Ich kann mich noch an den Typen erinnern, der es in dieser Disziplin bisher am weitesten gebracht hatte. Ich musste ihn von der Straße kratzen, nachdem er ins Sonnenlicht spaziert war. Er
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