Ausgesaugt
kümmern, und meine Erinnerung ist natürlich subjektiv und kann täuschen, aber ich glaube, es war, weil ich ihn ein paarmal ermahnt hatte, nicht vor diesem Gruftieclub an der Houston rumzuhängen und sich an die Vampirfans ranzumachen. Er hat sich ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt, wenn ich mich recht erinnere, hat ein paar Andeutungen zu viel gemacht, dass er der wahre Jakob wäre, Nosferatu und so weiter. Erinnerst du dich?
– Ja, ich erinnere mich.
– Und du, na ja, du hast das nicht richtig ernst genommen, warum auch immer, war eben so. Soweit ich weiß, war das kurz bevor du die Society verlassen hast, und du und ich, wir waren, nun ja, wir hatten ein kleines Kommunikationsproblem. Haben irgendwie aneinander vorbeigeredet. Haben die Signale nicht richtig gedeutet und gar nicht mitbekommen, dass unser Verhältnis nicht mehr das beste war. Auf jeden Fall war ich der Meinung, und ich dachte, ich hatte mich da auch einigermaßen deutlich ausgedrückt, dass Selby entbehrlich sei. Aber du, du hast mich einfach hängenlassen, Mann. Warst irgendwie so komisch zu der Zeit. Launisch. Ich dachte, ich hab’s mit einem Teenager zu tun. Klar, du hast wie einer ausgesehen, aber du warst, obwohl das Alter nicht immer Weisheit mit sich bringt, also du warst doch wirklich alt genug, um etwas erwachsener zu reagieren. Aber alles, was ich gehört habe, war ja, nee, ja, nee. Die ganze Zeit über. Du bist losgezogen, um Selby einen Besuch abzustatten. Ich dachte, du würdest deine dir zugedachte Rolle innerhalb der Society erfüllen, würdest deine naturgegebenen Talente und Fähigkeiten zum Wohle aller zum Einsatz bringen. Aber was tust du? Erinnerst du dich noch?
Ich erinnere mich. Aber ich sage nichts.
Terry wendet sich an alle anderen im Raum.
– Hey, wisst ihr, was Joe gemacht hat? Er hat mit Selby Lovelorn geredet . Hat ihm gesagt, und das hat er mir später auch noch erzählt, hat ihm gesagt, er ginge auf dünnem Eis und solle mal einen Gang zurückschalten.
Er schüttelt den Kopf.
– Joe Pitt redet mit jemandem. Erklärt Selby Lovelorn, dass es ein Problem gibt. Ermahnt ihn zur Vorsicht.
Er reibt sich die Nase.
– Joe, kannst du dich erinnern, was als Nächstes passiert ist? Als Nächstes hat es eben jener Selby Lovelorn, selbsternannter Fürst der Gruftieszene, mit der Angst bekommen und hat alles, keine Ahnung, auf eine Karte gesetzt und diese Schnalle aufgerissen. Sie hat sich mit einer Rasierklinge geschnitten und ihm ein bisschen Blut gegeben, hat wohl gedacht, das wäre, was weiß ich, eine transzendente sexuelle Erfahrung oder so. Selby hat sich festgesaugt. Und nicht mehr losgelassen. Sich in ihrem Arm festgebissen. Sie hat angefangen zu schreien. Und alles das mitten in diesem verdammten Club.
Er presst die Handflächen gegeneinander.
– Da musste ich handeln. An und für sich keine große Sache. Ich war mir nie zu fein dafür, mir die Hände schmutzig zu machen. Doch zu dieser Zeit war ich gerade dabei, mich in der Gemeinschaft der Nichtinfizierten zu etablieren, mich in die örtliche Aktivistenszene zu integrieren, wobei viel Fingerspitzengefühl vonnöten war. Das war alles zunichte, weil ich diese riesige öffentliche Blamage wieder geradebiegen musste, und meine Handlungsweise in diesem Fall hat vielem von dem widersprochen, was ich anderswo gesagt hatte. Joe, das war...
Er nimmt die Handflächen auseinander und zeigt sie mir.
– Eine Riesensauerei.
Er ballt die Hände zu Fäusten.
– Und wenn ich so darüber nachdenke, wenn ich diesen Vorfall Revue passieren lasse, was ich normalerweise nicht tue, weil ich üblicherweise versuche, Selbstvorwürfe zu vermeiden, weil die ja auch zu nichts führen, aber wenn ich jetzt so darüber nachdenke, dann frage ich mich, warum ich nicht das getan habe, was ich eigentlich von dir erwartet hätte?
Er hebt eine Faust.
– Und ich spreche nicht von Selby Lovelorn, den ich übrigens mit größter Diskretion seiner endgültigen Bestimmung zugeführt habe. Ich meine Folgendes, pass auf.
Er hebt auch die andere Faust.
– Ich meine dich, Joe. Ich meine, wenn Selby eine Grenze überschritten und sich damit selbst von seinen Verpflichtungen gegenüber dieser Welt befreit hat, nun ja, also, hattest du nicht im Grunde dasselbe getan? Wäre ich es nicht der Society schuldig gewesen, einen Mann zu beseitigen, der das Wohl der Allgemeinheit seinen eigenen Ansprüchen untergeordnet hat? Einen Mann, der mit jedem Tag zunehmend unter Beweis stellte, wie sehr
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