Ausgetanzt
rumzubekommen, ihn zu küssen, aufzufressen, sich seinen
Körper einzuverleiben, ihn aufzusaugen. Und jetzt stand er da und sagte ›Ich
war grad in der Gegend‹. Als wären sie sich beim Kegeln begegnet und einander
jetzt zufällig über den Weg gelaufen. Also wirklich! Wenn er es so ernst
meinte, wie er sagte, müsste er … er müsste vom Trafalgar Square direkt zu ihr
… und in Windgeschwindigkeit …
»Wohin des Weges?«, brachte sie heraus.
»Eine Befragung, aber …«
»… aber das geht mich nichts an, ich weiß. Hast du einen
Verdächtigen? Das wär aber schnell gegangen.«
Er strich sich eine dunkle Locke aus der Stirn, aber die fiel
gleich wieder zurück an ihren Platz. Berenikes Blick streifte den
Literatursalon. Sie musste endlich Platz schaffen für die Neuerscheinungen des
Herbstes. Und die E-Mails und die Buchhaltung … das Gedankenkarussell, Schluss
damit. Sie konzentrierte sich auf Jonas.
»Komm, trink ein Tässchen Maple Tea mit mir und wir reden
g’scheit, hm?«
»Maple Tea?« Skepsis lag in seiner Stimme, auch das kannte
sie. Vielleicht war er nur mit seinen Gedanken woanders. Auch er. Sie wollte
mit Jonas reden. Wie normale Leute. »Ahorntee. Schwarzer Tee mit Ahornaroma.
Aus Kanada. Davon bekommen nur besondere Gäste.« Sie streckte sich und
lächelte, ein Lächeln für Jonas. Wärme, ja doch, etwas wie ein Gefühl von zu
Hause breitete sich vom Bauch her in ihr aus. Sie strahlte Jonas an.
»Ach ja? Na gut, lass mich probieren.« Er ließ sich auf einem
Barhocker nieder und beobachtete jede ihrer Bewegungen.
Sie griff nach einer kleinen silbernen Teekanne, spürte dem
kühlen Metall in ihrer Handfläche nach. »Schau, die hab ich vor Jahren in
Marokko gefunden. Sieht sie nicht aus, als hätte sie schon einiges erlebt?«
Er nickte abwesend.
»Ich hab sie frisch poliert.« Sie nahm zwei Blümchentassen
vom Regal und stellte sie mit der Kanne auf ein Tablett. »Und diese Schalen
stammen von einem Flohmarkt in Wien. Ich frage mich, was die Kanne und die
Schalen einander so zu erzählen hätten.« Mit einem Blick auf Jonas brach
Berenike ab. Sie konnte nicht davon sprechen, dass die Tassen sie an ihre alte
Tante Salome erinnerten. Diese Tante hatte als eine der wenigen aus der
Verwandtschaft ihres Vaters, Fred Stein, die Shoah überlebt. Dabei hätte Jonas
sie vielleicht sogar verstanden, hatte er doch selbst keine einfache
Familiengeschichte, aufgewachsen in England, wohin seine Mutter als Kind in Sicherheit
gebracht wurde. Bisweilen vermisste Berenike die Magie ihrer Tante, hatte sie
doch von ihr so manches mitbekommen, ihr Interesse für alles Übersinnliche vor
allem. Aber die Tante war seit vielen Jahren tot. Tot und begraben.
Jonas räusperte sich. »Ich bin unterwegs zum Vater der
Toten. Der Weg hat mich hier vorbeigeführt, da dachte ich … und es ist eh
… also er meldet sich am Telefon nicht. Da läuft mir nichts davon. Kain hat
Caros Vater, Gernot Thalhammer, nicht angetroffen. Also probieren wir’s heute
noch einmal.«
»Wir? Ist Kain auch da?«
»Nein, der hat noch was zu erledigen. Ich bin allein zu dir
gekommen.«
»Komm, wir trinken den Tee in meinem Büro. Da haben wir
Ruhe.« Sie schob die Tür mit der Fußspitze auf und stellte das Tablett auf dem
kleinen Schreibtisch ab. Ein Erbstück vom Großvater mütterlicherseits. Herr
Roither, der ›arische‹ Großvater aus Wien-Josefstadt. So kompliziert war das
mit der Verwandtschaft.
»Hans?«, wandte sie sich an ihren Kellner, der steckte
fragend den Kopf zur Tür herein.
»Ja?«
»Ich möchte ungestört mit Jonas reden, ok?«
»Natürlich, ich schupf den Laden schon«, tönte der Kellner
selbstbewusst. Als g’standener Ausseer sang er in irgendeiner der vielen
hiesigen Musikgruppen. Berenike hatte ihn längst live hören wollen, aber dafür
fehlte ständig die Zeit.
Eine unermessliche Müdigkeit befiel Berenike, wie erschlagen
setzte sie sich in den alten Holzsessel, auf den sie ein kuscheliges Schaffell
gebreitet hatte. Jonas ließ sich ihr gegenüber auf einen Hocker fallen. Einen
Moment lang versanken sie wie für die Ewigkeit in einem endlosen Blick. Alles
war da, alles, jede Möglichkeit …
Mit aller Kraft riss Berenike sich los. Mit dem Unterarm
schob sie einige Unterlagen zur Seite, die sich wild durcheinander auf dem
Tisch stapelten. Sie reichte Jonas eine Tasse.
»Habt ihr wenigstens schon den Rest von Caros, ähm, Leiche
gefunden?« Sie schenkte Tee ein, ihr Arm fühlte sich schwer an,
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