Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
für Nietzsche den Ausdruck vom »Denker auf der Bühne« geprägt.
Sloterdijk: In dieser Wendung steckt ein Teil meiner Autorentheorie. Ich habe Nietzsche als einen Denker charakterisiert, der nicht nur wie ein Schauspieler auf die Bühne getreten ist, um dort zu agieren. Vielmehr hat er seine Psyche als eine Bühne gesehen, auf der miteinander rivalisierende »Kunsttriebe« sich duellierten. Er selber bietet sich diesen Trieben als »theatrum belli« an und läßt die widerstreitenden Energien miteinander kämpfen. Das ist ein Bild, das ich für den Hausgebrauch übernehmen könnte. Man darf sich den Autor ja nicht wie einen ruhigen Fluß vorstellen, der von der Quelle bis zur Mündung ungetrübt vor sich hin fließt. Zwar gibt es fließende Zustände, aber wichtiger für die Produktion sind die Zusammenstöße. Der Autor ist eigentlich ein Moderator der in ihm wirkenden Partialenergien, und sein Schreiben führt die Aufsicht über die Kollisionen.
Bopp: Er berichtet davon wie ein Unfallreporter?
Sloterdijk: Er guckt nach innen und reportiert, welche Leichen heute wieder auf der Straße liegen.
Bopp: In Ihrem Buch Zorn und Zeit , dessen Titel ja auf Heideggers Sein und Zeit anspielt, haben Sie beiläufig angemerkt, daß Heidegger kein Autor gewesen wäre, der – um wieder mit Nietzsche zu sprechen – von solchen »gefährlichen Wahrheiten« habe handeln können. Also wäre Heidegger solchen Zusammenstößen ausgewichen oder hätte sie gemieden?
Sloterdijk: Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Heidegger hat sich enorme Verdienste um die zeitgenössische Philosophie erworben. Als Anhänger der Kritischen Theorie konnte ich mich aber erst nach meiner Rückkehr aus Indien mit ihm beschäftigen, nach 1980, zuvor galt er in unseren Kreisen als Unperson und war unter einem undurchdringlichen Tabu begraben. So kam es, daß ich erst spät entdeckte, was bei ihm zu finden war – zum Beispiel eine sehr anregende Theorie der Stimmungen. Damit sind vorlogische Färbungen des Daseins gemeint, die allen einzelnen Erkenntnissen vorausgehen. Solche Zugewinne an Reichweite für den philosophischen Diskurs sind bedeutsam, weil sie helfen, den überzogenen Rationalismus der Tradition zu korrigieren. Sie machen die Philosophie anschlußfähig an eine Fülle von Lebenserfahrungen, die der philosophischen Rede früher nicht zugänglich waren.
Bopp: Aber in Zorn und Zeit stehen Sie kritischer zu Heidegger?
Sloterdijk: Ja, ich versuche zu zeigen, daß die Stiftung der historischen Zeit – »Geschichtlichkeit« ist ja eines der Pathos-Wörter des jungen und mittleren Heidegger – nicht in der Weise geschieht, wie Heidegger sich das vorstellt. An uns ergeht weder ein »Ruf des Seins« noch ein »Ruf der Sorge«, vielmehr entsteht die große Geschichte durch das Gedächtnis des Unrechts und den Prozeß des Ressentiments. Wenn sich in den menschlichen Gedächtnissen Sedimente von unverarbeiteten und unvergoltenen Leidenserfahrungen bilden, so kommt ein geschichtemachender Mechanismus in Gang, eine Art »Kausalität des Schicksals«, wie die frühen Beobachter des Tragischen sie beschrieben haben: Die bewirkt, daß die Folgen einer bösen Tat zu einer späteren Zeit und an einem anderen Ort wieder auftauchen.
Bopp: Die Zeit spannt sich vom erlittenen und erinnerten Unrecht zu seiner Vergeltung.
Sloterdijk: So ist es. Ohne eine Untersuchung dieser Rückschlagsgefühle und Rückzahlungsgeschäfte läßt sich der ursprünglich zeitstiftende Prozeß gar nicht begreiflich machen. An dieser Stelle klafft in Heideggers Untersuchungen eine Lücke, und diese habe ich in Zorn und Zeit zu schließen versucht. Wobei es unvermeidlich war, Heidegger wieder näher an Nietzsche heranzurücken, der mit seiner Theorie des Ressentiments das moralische Epochenthema des 20. Jahrhunderts angeschlagen hatte. Doch seit Nietzsches großer Intervention hat sich auf dem Gebiet der Ressentimentanalyse kaum etwas getan, von Max Schelers Beiträgen abgesehen, so daß es höchste Zeit war, sich die Phänomene im Licht unserer Erfahrungen mit den Riesenkämpfen des 20. Jahrhunderts neu vorzunehmen. Die ganze Epoche bleibt dunkel, wenn man nicht offenlegt, wie in ihr das Ressentiment zur ersten Geschichtsmacht werden konnte.
Bopp: Das scheint mir aber nicht nur eine Art und Weise der Analyse, sondern eine ganz andere Sicht auf die Geschichte. Sie ist ja dann nicht mehr als Entwicklung zu sehen, als ein auseinanderfaltender Prozeß. Man kann nicht
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