Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
des Todes eine bemerkenswerte Errungenschaft der höheren Metaphysik. Sie begreift die Natur als neutrale Ordnungskraft, mächtig genug, um auch den Tod an seinen Platz zu stellen. Übrigens würde jeder moderne Neurotiker die magische Vorstellung unterschreiben, daß es keinen natürlichen Tod gibt. Er weiß ja, daß er unglückseligerweise mit seinem Mörder unter einem Dach lebt – mit dem eigenen Körper. Die Lunge, das alte Luder! Ich weiß genau, was sie vorhat. Sie wird mich eines Tages umbringen – aber sie soll ja nicht glauben, daß ich bloß ihr zuliebe mit dem Rauchen aufhöre! Oder die Prostata, diese in den Männerkörper projizierte Zeitbombe, wie von den fiesesten Feministinnen erfunden. Die Domestizierung des Todes ist die große Kulturleistung des metaphysischen Denkens. Es hat der ursprünglichen Paranoia das Wasser abgegraben. Heute ist diese Funktion an die Medizin delegiert worden.
Scheu: Irgendwann in naher Zukunft dürfte der erste Mensch geklont werden. Sehen Sie in der Humangenetik eine Gefahr?
Sloterdijk: Immer mit der Ruhe. Die domestizierendenEnergien, diese um die Techniken herum aufgebaut wurden, sind so groß, daß es absurd wäre anzunehmen, irgendein verrückt gewordener Despot könnte die Weltherrschaft mittels einer Armee von Biorobotern an sich reißen.
Scheu: Wenn der Mensch in sein Erbgut eingreift, hat das unter Umstände irreversible Folgen – er könnte sich zum Beispiel auf bestimmte Eigenschaften festlegen, die ihn seiner natürlichen Offenheit beraubten.
Sloterdijk: Einverstanden. Aber dieses Problem kennen wir seit langem in anderer Form. Es ist die gute alte Entfremdung. Die menschlichen Lebensverhältnisse sind ja zu einem großen Teil nichts anderes als großangelegte Attentate auf die Weltoffenheit. Die traditionellen Opfer dieser Versuche sind Bauern und Proletarier – so jedenfalls hat die kritische Gesellschaftstheorie diese Gruppen porträtiert. Sie entbehren seit Jahrtausenden der Möglichkeit, an ihr wahres Potential anzuknüpfen. Kurzum, daß der Mensch den Menschen unterbietet, ist ein historischer Befund, der die Klassengesellschaften seit je beunruhigt.
Scheu: Das klingt so, als glaubten Sie an eine klassenlose Gesellschaft, in der jeder sein Potential verwirklichen kann.
Sloterdijk: Nein. Ich glaube nur schon deshalb nicht daran, weil sich viele Menschen vor der Offenheit verweigern. Das haben all die, die im Namen der Gerechtigkeit die Ausbeutung anprangerten, nicht sehen wollen. Wenn Menschen die Entfremdung wählen, darf man sie nicht zur Befreiung zwingen.
Scheu: Dann wird es in der Zukunft zwei Arten von Menschen geben: diejenigen, die für die Offenheit, und diejenigen, die für die biotechnische Entfremdung votieren?
Sloterdijk: Das könnte so sein. Aber das ist für mich nicht die entscheidende Frage. Ich möchte an das Thema eines vom Tod befreiten Lebens in seiner aktuellen biotechnischen Gestalt anknüpfen, an die Diskussion um das Langlebigkeits-Gen. Der erste große Betrugsfall in der noch jungen Geschichte der Humanbiotechnik hat genau dieses Objekt betroffen.Der koreanische Forscher Hwang Woo-suk soll ja an diesem Gen seine angeblich sensationellen Erkenntnisse gewonnen haben. In Kalifornien arbeitet ein ganzes Bataillon von Wissenschaftern an der Entschlüsselung des Langlebigkeits-Gens, von dem man offensichtlich glaubt, es existiere. Der Technikprophet Ray Kurzweil beschreibt unsere Gegenwart als den Moment, in dem der Durchbruch zur Unsterblichkeit kurz bevorsteht. Durchhalten ist angesagt, nur nicht schlappmachen jetzt: »Live long enough to live forever!« heißt die Parole. Gehen wir also von einem Szenario aus, in dem bald alle Menschen mindestens 150 oder 200 Jahre leben können. Man hätte dann genau die Situation, von der wir oben gesprochen haben. Der Tod wäre kein natürliches Ende mehr, er wäre vielmehr immer der Entscheidung des Individuums selbst oder eines externen Agenten anheimgegeben. Wo Tod war, wird Mord oder Selbstmord werden. Die Steinzeitlogik behält recht.
Scheu: Sie finden diese technobiologischen Imaginationen naiv, aber nicht verwerflich?
Sloterdijk: Die Kindlichkeit dieses Glaubens an das sehr lange, sozusagen ewige Leben hat etwas Rührendes. Aber wir Europäer sind selber schuld. Wir hätten die späteren Amerikaner nicht gehen lassen dürfen. Es war ja klar, daß sie auszogen, um woanders in Ruhe träumen zu können. Nun müssen wir mit ihren Träumereien fertig werden.
Scheu: Sie selber
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