Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Sozialdemokratie ihre Abhängigkeit von einer prosperierenden Industrie in einem ökonomischen Unendlichkeitsspiel, einem unendlichen Gewinnspiel der Märkte eingestanden. Liberalismus und Sozialdemokratie bilden Vorder- und Rückseite derselben Münze. Denn beide sind Infinitisten.
Methfessel/Ramthun: Soll heißen: Sie kennen keine Grenzen?
Sloterdijk: Ja, beide treiben Grenzüberschreitungspolitik, Wachstumpolitik. Wachstum, das ist nur ein neutralisierender Ausdruck für Grenzüberschreitung, Grenzverschiebung. In der modernen Gesellschaft sind die Prozesse nach oben offen, weil es keine Grenze der Einkommen gibt, keine Grenze der Satisfaktion und keine Grenze der Selbstverwirklichung. Im Gegensatz zur antiken Hypothese, daß der Mensch satt werden kann – das ist ja das anthropologische Prinzip der alten Welt –, sind die Menschen in der Moderne nimmersatte Zieleverfolger.
Methfessel/Ramthun: Und die Sozialdemokraten wollen diese nimmersatte Politik der Entgrenzung fortführen?
Sloterdijk: Mit den Grünen ist sie naturgemäß nicht so leicht zu machen wie mit den Liberalen.
Methfessel/Ramthun: Sind Sozialdemokraten nicht ganz entschiedene Umverteiler?
Sloterdijk: Sie sind Umverteiler, die merken, daß die Umverteilung abhängig ist von Wertschöpfung ohne Ende. Deswegen ist es gar nicht überraschend, daß sozialdemokratische Ministerpräsidenten auch Vorstöße in Richtung auf neue Technologien mit anführen. Daß es gerade in so einem sensitiven Gebiet wie dem der Humanbiotechnik geschieht, ist vielleicht ein wenig anstößig, aber in letzter Instanz vollkommen konsequent.
Methfessel/Ramthun: Im Zeitalter der Globalisierung dürfte es doch ohnehin nicht möglich sein, sich den Verlockungen neuer Technologien zu entziehen.
Sloterdijk: Die Globalisierung beruht auf dem sehr erfolgreichen Export von europäischen Lebenssteigerungsmitteln. Die Europäer haben seit 200 Jahren eine Produktpalette entwickelt, die die Lebensform der Menschen fast überall dramatisch verändert, sobald die Menschen den Gebrauchswert dieser neuen Produkte erkennen. Es gibt einen regelrechten Eifersuchtswettbewerb um den Zugang zu diesen Mitteln.
Methfessel/Ramthun: Wieso Eifersuchtswettbewerb?
Sloterdijk: Alle Wettbewerbe sind eifersuchtsgesteuerte Prozesse. Der größte Wettbewerb ist nicht der Wettbewerb um Güter, sondern um immaterielle Gratifikationen. Hegel spricht vom Kampf um Anerkennung als dem eigentlichen Motor der Geschichte.
Methfessel/Ramthun: Und weshalb ist nicht der Neid der Motor des Wettbewerbs?
Sloterdijk: Es gibt natürlich beide Varianten. Eifersucht ist der positivere Ausdruck dafür, weil der Eifersüchtige an die Chance glaubt, dem Rivalen im Wettlauf um ein bestimmtes Gut voraus sein zu können, selbst wenn man erst beim Rivalen gelernt hat zu begehren, was der schon hat. Beim Neid wird dieEifersucht um ihre schöpferische Spitze geköpft, und die Herabsetzung des anderen tritt in den Vordergrund: Was ich nicht habe, soll der auch nicht haben.
Methfessel/Ramthun: Danach wäre Eifersucht mehr mit Chance und Freiheit verbunden, Neid mehr mit Gleichheit?
Sloterdijk: Ja. Die Zumutung von Verzicht ist leichter generalisierbar.
Methfessel/Ramthun: Dann zeichnen sich neidische Gesellschaften doch durch mehr Umverteilung, durch eine hohe Staatsquote aus. Deutschland wäre eine Neid-, Amerika eine Eifersuchtsgesellschaft?
Sloterdijk: Das ist mit Sicherheit so.
Methfessel/Ramthun: Nun macht die Globalisierung den Rückzug des Staates nötig und fördert damit indirekt die Schaffung einer Zivilgesellschaft.
Sloterdijk: Vorausgesetzt, man kann die traditionellen Staatsleistungen, also diese großen kommunitaristischen Systeme, einem neuen Träger anvertrauen, sprich: den Unternehmen als den neuen Vaterländern der Arbeitnehmer. Das Problem ist nur, es gibt wenig Beweise dafür, daß das bei uns funktioniert.
Methfessel/Ramthun: Wieso nicht?
Sloterdijk: Weil der Staat ein gewaltiger Dienstleister ist und bleibt, für den es noch keinen Ersatz gibt. Der Homo oeconomicus wird bei uns ja gar nicht in der Wirtschaft gezeugt, er wird in staatlichen Krankenhäusern geboren, in Familien aufgezogen, auf staatlichen Schulen erzogen, in staatlichen Universitäten ausgebildet, und dann tritt er als 25- oder 30jähriger hinaus und wird ausgewildert, losgelassen in dieses Areal des Marktes und muß sozusagen auf dem zweiten Bildungsweg ein zweites Leben beginnen, um die Kriterien und die moralischen Wertungen zu
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