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Ausgezählt

Ausgezählt

Titel: Ausgezählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Eckert
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Leid. Ich bin noch nicht so weit.«
    Sie hat längst einen anderen kennen gelernt, dachte Bruno. Vielleicht den Cutter bei der Filmgesellschaft.
    Aber Lara machte keine Anstalten aufzubrechen. Sie erkundete die Wohnung und lobte die Aussicht auf Jugendstilfassaden und Alleebäume – die Sonne ließ ihr zimtfarbenes Haar leuchten, als schiene sie nur für Lara. Bruno erklärte, warum der Garderobenspiegel im Wohnzimmer stand. Sie begutachtete das Gemälde von Isle und Bruno spürte, dass es nicht nach ihrem Geschmack war.
    Lara entdeckte das Heft mit den Aufzeichnungen der Flugstunden. Albatros. Die gemalte Schülerschrift erregte ihr Interesse. »Ich wusste gar nicht, dass du ein Kind hast.«
    »Das hab ich selbst geschrieben, vor dreiundzwanzig Jahren.«
    Er wollte das Heft an sich nehmen. Sie entzog es ihm, um ihn zu necken. Lara blätterte und lachte über drollige Rechtschreibfehler. Sie staunte, dass er mit neun Kunstflugfiguren beherrscht hatte. »Ich hatte nur ein ferngesteuertes Auto. Einen Lotus. Wahrscheinlich von Max geerbt wie die meisten Spielsachen.« Sie las aus dem Heft vor: »Kein Start, da ich alleine war.«
    »Altes Zeug. Leg es weg«, bat Bruno.
    »Kann man so einen Flieger nicht allein starten?«
    »An dem Tag war der Wind ziemlich stark. In dem Fall ist es besser, wenn jemand den Flieger festhält.«
    »Warum bist du dann allein zum Startplatz gefahren?«
    »An dem Tag ist mein Vater ausgezogen. Er hat meiner Mutter gesagt, dass es aus ist, und seine Sachen gepackt.«
    Die Witwe nahm Bruno in den Arm. Er begann, sein Herz auszuschütten. Erinnerungen kochten hoch: an Klein-Brunos bohrende Selbstzweifel, die ihn danach forschen ließen, bei wem sein Vater jetzt lebte. An den Schock, als er den anderen Jungen sah.
    Albatros – der Flugtag, der nicht im Heft eingetragen war: Klein-Bruno holte seinen Flieger vom Schrank und strampelte mit dem sperrigen Ding den ganzen Weg durch die Stadt, über die Brücke und den Rhein entlang. Er schwitzte. Seine Lungen brannten.
    Bruno warf sein Fahrrad hin und rannte zum Apelter Feld hinunter. Er entdeckte den Granada des Vaters. Eine Gruppe von Leuten auf der anderen Seite des Zauns. Flugzeuge, die Kreise drehten. Bruno glaubte, das rot-weiße Modell des anderen Jungen zu erkennen.
    Womöglich hatten sie diesen Flieger ebenfalls Albatros getauft. Bruno rüttelte am rostigen Maschendraht und riss sich die Finger wund. Er trat gegen den Pfosten. Er schrie Schimpfwörter, die ihm seine Mutter verboten hatte. Spaziergänger gafften ihn an.
    Klein-Bruno kletterte auf den Deich und setzte sein Modell auf den asphaltierten Weg. Er würde es von hier aus starten, abseits der Schlampe und ihres Sohnes. Und des Vaters, der zwei Fremde liebte und nicht ihn – trotz aller Sprüche, die er am Telefon machte.
    Bruno glaubte fest daran, dass es an ihm lag. Dass etwas mit ihm nicht stimmte.
    Er füllte den Tank und startete den Motor. Das restliche Benzin schüttete er über den Tragflächen aus. Er drehte die Maschine gegen den Wind und erhöhte die Drehzahl. Das Flugzeug rollte und hob ab.
    Albatros brummte nicht, sondern sang. Bruno ließ sein Modell in weitem Bogen über das Apelter Feld fliegen. Als es zurückkam, fing es endlich Feuer. Ein Flammenball, der Bruno den Atem anhalten ließ. Der Motor setzte aus – still wie ein Stern schwebte Albatros über den Deich und die Pappeln hinweg und versank im Rhein.
    Zu Hause erzählte Bruno, ältere Jungs hätten ihm das Flugzeug abgenommen. Er belog auch die Polizisten im Präsidium. Seine Tränen waren echt.
     
    Lara drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. Sie hielt ihn fest wie ein Kind, das man tröstet.
    Bruno sagte: »Tut mir Leid, dass ich dich mit dieser alten Geschichte belästigt habe.«
    »Du hast mich nicht belästigt.«
    Er ärgerte sich. Das graue Heft hatte ihn verleitet, belanglose Anekdoten zu erzählen. Was war die Trennung seiner Eltern im Vergleich zu dem Verlust, den Lara erlebt hatte.
    Als Ebis Witwe gegangen war, warf Bruno das Heft in den Mülleimer – dumme Erinnerungen.
    Manchmal vermisste er seinen Vater noch heute. Es gab ihn, hier in dieser Stadt.
    Bruno wollte nicht daran denken.

50.
    Die Praxis, in der Janssens Tochter ihre Lehre absolvierte, lag nur vier Blocks vom Vereinsheim an der Heyestraße entfernt. Bruno parkte in einer Garagenzufahrt. Er drückte die Klingel am Hauseingang. Der Öffner summte im gleichen Moment. Aus dem Aufzug zwängte sich eine Frau mit Kinderwagen und

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