Ausgezählt
schwieg trotzig vor sich hin. Er bot ihr eins der Pfefferminzbonbons an, die im Türfach lagen.
»Zuckerfrei?«
»Ja.«
Hannah griff zu.
»Fragst du nach den Inhaltsstoffen, wenn du dir eine Line legst?«
Das Mädchen blickte aus dem Fenster. Ein alter Mann tapste über den Rasen vor der Landesklinik. Ein Weißkittel holte ihn ein und führte den Patienten zurück. Langsam, Schritt für Schritt.
Bruno sagte: »Zuerst kriegst du das Koks umsonst wie ein Bonbon. Am Anfang ist es einfach nur geil. Dann merkst du, wie grau die Welt ist, wenn du es nicht nimmst. Wie nichtsnutzig du dich fühlst, wenn du auf den Stoff verzichten musst.«
Hannah saugte an dem Pfefferminz. Sie knetete den Kragen ihrer Jacke. Teures weiches Leder mit einem dünnen Streifen Fell an den Säumen. Ein Jackett wie aus einem der Schaufenster an der Königsallee. Prada, Gucci, Kenzo.
»Manchmal ist die Welt aber auch wirklich ein verdammter Scheißhaufen«, antwortete Janssens Tochter.
»Schau mich an, wenn wir miteinander reden.«
Sie tat es. Ihre Pupillen waren normal.
Das Mädchen antwortete: »Dein Gewäsch über die Klapse kannst du dir knicken. Jeder kokst doch ab und zu. Dass einer davon süchtig wird, glauben doch nur Bullen und arbeitslose Fabrikarbeiter, die an der Flasche hängen.«
Ein Krankenwagen fuhr vorbei und rollte durch das Tor. Bruno erinnerte sich daran, dass er in seiner Zeit im Wachdienst der Polizeiinspektion Südwest einige Transporte zur Landesklinik begleitet hatte: Patienten, die gegen ihren Willen eingeliefert wurden, weil sie Leute attackiert oder versucht hatten, sich das Leben zu nehmen. Trinker, Tablettensüchtige, immer wieder auch Kokser.
»Du weißt es besser, Hannah. Irgendwann kommst du nicht mehr ohne Kokain aus, weil du dich an den Kick so gewöhnst, dass du ihn gar nicht mehr spürst, aber umso dringender suchst. Aber dann kriegst du den Happy Sugar nicht mehr gratis. Die coolen Freunde jammern, was sie selbst berappen müssen. Du pumpst deinen Vater an, die Kollegin am Arbeitsplatz. Fragt sich nur, was du machst, wenn sich keiner mehr anpumpen lässt.«
Sie verzog die breiten Lippen. »Weißt du, was Sucht ist? Alle zwei Tage find ich ’ne leere Pulle im Müll. Neulich musste ich meinen Alten die Treppe hochschleppen, weil er’s allein nicht mehr geschafft hat. Das nenn ich Sucht. Sag meinem Alten, wenn er noch mal in meinen Sachen schnüffelt, zieh ich aus. Dann kann er sehen, wo er bleibt.«
»Wie hoch sind deine Schulden?«
»Fahr mich zurück. Ich hab schon genug Zoff mit meinem Chef.«
»Ich wette, deine Freunde haben dir schon Angebote gemacht. So gut, wie du aussiehst. Der Fotograf macht Fotzenfotos. Der coole Dealer bietet dich reichen Kunden an. Ein echtes Model hat nicht jeder im Angebot.«
»Hör auf!« Sie zitterte. Bruno startete den Motor. Warme Luft zirkulierte. Ein gängiger Spitzname für Kokain lautete Nuttendiesel.
»Irgendwann wirst du dich darauf einlassen. Du redest dir ein, dass es nicht allzu schmutzig ist. Du machst dir vor, dass das ja alles coole Typen sind.«
Hannah drehte den Kopf weg.
»Deine Modelkarriere ist schneller im Arsch, als du hoppla sagen kannst. Irgendwann hört dein Zahnarzt Gerüchte und du findest keinen mehr, bei dem du die Lehre zu Ende machen kannst. Und die Fotzenfotos werden richtig schmutzig, weil sich sonst keiner mehr für dich interessiert.«
Sie strich über ihre Schultern. Ihre Finger vergruben sich im weichen Leder.
»Bei wem hast du Schulden gemacht?«
Hannah nannte ihren Vater, die Kollegin und Marcel Horrenkamp, einen Fotografen, der sie genötigt hatte, nackt zu posieren.
»Verkauf den Lederfummel und werd mit deiner Kollegin quitt. Um Horrenkamp kümmere ich mich.«
»Die Jacke verkauf ich nicht. Die ist ein Geschenk.«
»Rattenleder!«, erwiderte Bruno.
Tränen liefen über Hannahs ungeschminktes Gesicht. Ihre Augen waren groß und fast so golden wie die einer Raubkatze.
Als Bruno zur B-Jugend des TuS Gerresheim stieß, machte Klein-Hannah noch in die Windeln. Später meldete ihre Mutter das Mädchen bei einer Agentur an, weil jeder in der Nachbarschaft davon redete, wie süß es sei. Ein paar Werbefotos, einmal im Jahr ein Auftritt für Kindermode – Klein-Hannah war der Stolz der Janssens.
Die Mutter starb. Janssen brachte sich das Schnapstrinken bei. Das Mädchen war oft allein. Der Alte trainierte die Boxer, wenn er von der Fabrik kam.
Hannah wurde groß und immer attraktiver. Sie träumte davon, einmal von
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