Aussortiert
hörte.
Charles Wilkins, dreiundfünfzig,
aus Tennessee, war als Tourist unterwegs in Berlin. Nachdem nun seine vier
Töchter fast alle verheiratet waren, drei de facto und die jüngste
beinahe, wollte der Bankbeamte endlich die Stadt besuchen, in der sein
Vater, damals Infanterist und Sieger des World War II, jenes magere und
hohlwangige Frollein geehelicht hatte, das bald darauf Charlies Mutter
wurde. Heute hatte er schon den Bundestag besichtigt und das Brandenburger
Tor, er war auf dem Spreekanal Boot gefahren und hatte in Treptow den
letzten erhaltenen Wachturm der Mauer inspiziert, etwas enttäuscht
von dem mickrigen und verschlossenen Gebäude, das den Namen Gebäude
kaum verdiente. Der Anblick der Oberbaumbrücke hatte ihn einigermaßen
versöhnt. Von soviel ungewohnter Aktivität hungrig geworden,
konnte er sich für keines der vielen möglichen Lokale
entscheiden, betrat deswegen, auch um Reisegeld zu sparen, eine Filiale
jener Fastfoodkette, die ihn zu dem gemacht hatte, was er wog. Ungefähr
130 Kilo.
In seine dreizehn Jahre jüngere
Kollegin Lidia war Nabel ebenso unglücklich wie klammheimlich
verliebt. Er hielt sie ihres streberischen Auftretens wegen für gefühlskalt,
und Lidia tat wenig, um diesen Eindruck zu relativieren. Sie war
ehrgeizig, doch zum Glück nicht karrieregeil. War an der Lösung
der Fälle interessiert, nicht am schnellen persönlichen
Aufstieg. Wäre das anders gewesen, hätte es Gelegenheiten genug
für sie gegeben, Nabel blöd dastehen zu lassen. Stattdessen
hatte sie ihn oft gedeckt, wofür Nabel sie umso mehr liebte, ohne
aber seine Liebe je anders anzudeuten als mit einem dankbaren Zwinkern.
Lidia hatte einen Freund, von dem sie nie erzählte, mit dem sie nicht
zusammenlebte, der ihren Beruf haßte und an der Börse endlich
reich genug werden wollte, um sie von dieser Arbeit zu ›erlösen‹.
Dabei hing Kriminaloberkommissarin Lidia Rauch mit solcher Leidenschaft an
ihrem Beruf, daß der Konflikt vorprogrammiert und ein Ende jener
Beziehung schon abzusehen schien. Nur der Zusammenbruch der Börsen
hatte die Trennung noch jahrelang hinausgeschoben. Nabel, nicht ganz
schlank, groß, dunkelhaarig und grünäugig, war keineswegs
Lidias bevorzugter Typ, aber sie fand ihn nicht nur leidlich gut
aussehend, sie empfand Sympathie und, ja, man muß es so sagen
– Mitleid für ihn, er war freundlich und, bis auf gelegentliche
Depressionen, witzig, auf eine trocken-sarkastische Art, die gelegentlich
in Zynismus umschlug. An der Mordkommission gefiel ihm besonders, daß
die Opfer tot waren und ihm nicht auf die Nerven gehen konnten. So hätte
es Nabel selbst ausgedrückt. Anders, seiner Natur angemessener
gesagt, besaß er eine sehr sentimentale Ader, hatte damals, im
Betrugsdezernat, unter emotionalen Problemen mit noch lebenden Opfern und
deren Elend gelitten und es nie verstanden, Beruf und Feierabend zu
trennen, abzuschalten. Im Grunde war Nabel ein hilfsbereiter, an der Welt
müde gewordener Mensch. Vor einer Woche hatte er – alleine
– seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert und sich mit der
Feststellung Mut gemacht, daß er zwei Jahre jünger war als Tom
Cruise. Und dies – das war das Schönste – würde bis
ans Ende seines Lebens so bleiben.
Wilkins bestellte im Burger
King das Triple-Whopper-Menu mit Pommes und Coke Light, nahm
Extra-Ketchup, Salz und Pfeffer, hievte seinen massigen Hintern auf einen
der wenigen freien Plätze und wollte zu essen beginnen. Einen Moment
darauf fiel, warum auch immer, seine Fotoausrüstung von der Bank zu
Boden. Vielleicht war jemand im Vorübergehen an der Schlaufe hängengeblieben.
Oder er selbst. Wilkins stieß einen Fluch aus, sah sich die Kamera
auf dem Boden knieend an, prüfte die Linse. Eine relativ teure
Kamera, er hatte sie sich von seiner ältesten Tochter geliehen.
Nabel stand gegen elf Uhr
morgens auf, nachdem er die halbe Nacht zuvor Papierkram durchgeackert
hatte.
Er stellte fest, daß
der Kühlschrank nicht ausreichend kühlte, es war bereits über
dreißig Grad heiß draußen, mitten im August, der
Prosecco besaß nicht die richtige Temperatur, der Tag begann
schlecht. Sehr schlecht. Demütigend. Wenn ein Kühlschrank nicht
zuverlässig sein kann, obwohl er ohne Ende Strom bekommen hat, wem
soll man noch vertrauen, dachte Nabel und goß die vor Durst fast
schreiende
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