Aussortiert
selbstverständlich zurückweisen, je
etwas auch nur sinngemäß Ähnliches von sich gegeben zu
haben. Er war reichlich betrunken gewesen, als er es gesagt hatte, im
kleinen Kreis am Ende der letzten Weihnachtsfeier, das muß man zu
seinen Gunsten hinzufügen.
Lidia band sich die
halblangen kupferroten Haare zum Zopf. Sie hatte zwei Tassen Kaffee und
Mettwurstbrote mit Schnittlauch aus der Kantine besorgt.
»Weißt du, Kai,
was merkwürdig ist? Ein Freak, der irgendwelche Filme nachspielt, hätte
andere Verbrämungsmöglichkeiten seiner Tat gehabt.«
Verbrämungsmöglichkeiten.
Welch schönes Wort.
»Wie meinst du das?«
»Naja, die
Bekenntnisschreiben waren offenkundig vorbereitet. Völlerei und
Wollust gehören zu den sieben Todsünden, da hätte man süffiger,
barocker formulieren können. Wenn man auf der religiösen Schiene
unterwegs ist.«
»Das hab ich mir auch
gedacht. Und wenn es gar nicht so religiös gemeint ist?«
Nabel stand auf und ging im
Zimmer hin und her. »Vielleicht ist mit Gott nicht Gott gemeint,
sondern der Mörder redet von sich in der dritten Person. Irgendein
frustriertes, sozial benachteiligtes Schwein mit Allmachtsphantasien. Der
Typ beschließt, jemanden umzubringen. An einem Ort mit relativ
vielen Zuschauern. Es muß schnell gehen, und er darf nicht
auffallen. Das bedeutet, er geht ein Risiko ein. Auch der Mord im
Pornokino war ein Risiko. Er darf das Opfer nicht dazu kommen lassen, auch
nur einen einzigen Schrei auszustoßen.«
Lidia nickte. »Einer
der Zeugen hat beobachtet, wie Wilkins auf dem Boden herumkroch und etwas
aufgehoben hat.«
»Währenddessen muß
es passiert sein. Der Mörder tauscht den Becher aus. Dafür genügt
eine halbe Sekunde, wenn er geschickt ist. Er bringt den vorbereiteten
Schierlingsbecher mit, vielleicht in einer Aktentasche oder sowas –
sonst müßte er im Restaurant das Gift einfüllen, das könnte
auffallen.«
»Okay, Kai. Aber er muß
ein bißchen Glück haben. Er sucht ein dickes Opfer und es muß
gerade eines anwesend sein.«
»Einverstanden. Aber in
Schnellfreßbuden hockt fast immer irgendein Fettsack.«
»Trotzdem. Ich weiß
nicht, wie du das empfindest, aber ich meine, der Mörder hatte eine
ruhige Hand und außergewöhnlich metallene Nerven. Es spielt
sich ab wie in einer Choreographie. Strenges Timing. Als Wilkins zu Boden
geht, achten alle nur auf ihn, der Mörder vertauscht die Becher und
entfernt sich. Ganz ruhig.«
Nabel ahnte, was sie ihm
damit sagen wollte. Daß das alles gegen einen pubertierenden Ersttäter
sprach. Viel eher für einen hochgradigen Geisteskranken, der sich von
höheren Mächten behütet glaubt.
»Ganz genau!«
Lidia gab ihm recht, was genügte, um Nabel zu einem Lächeln zu
verleiten. Im Grunde machte er den Job nur noch jener vereinzelten Momente
wegen, in denen Lidia ihm zustimmte – und diese leicht prickelnde Wärme
vom Nacken aus seine Schultern durchdrang.
Kein einziger Zeuge konnte
sich erinnern, ob jemand – und wenn, wer – an Wilkins’
Tisch gesessen hatte. Das wäre auch zu praktisch gewesen. Lidia
schneuzte sich. Sie schien seit Tagen unter einem Sommerschnupfen zu
leiden. Nabel mochte das Geräusch, wenn sie niesen mußte. Es
klang ein wenig nach dem hellen Schrei eines Fuchses auf Brautschau.
»Gesundheit!«
»Soll ich dich
heimfahren?«
»Danke. Ich nehm den
Bus.«
Nabel bemühte sich
krampfhaft, keine Situation entstehen zu lassen, in der seine Gefühle
für Lidia jemals aus dem selbstgebastelten Käfig ausbrechen
konnten. Vage dachte er daran, bald in Frühpension zu gehen und
danach bei ihr alles auf eine Karte zu setzen. Jetzt, wo sie noch
zusammenarbeiteten, war es nötig, den Arbeitsalltag sauberzuhalten.
Gegen 22 Uhr verließen
beide das Büro, kurz zuvor war per Fax die Nachricht gekommen, daß
in beiden Fällen keinerlei brauchbare DNA-Spuren sichergestellt
worden waren.
Die Schweinezeitung
berichtete am nächsten Morgen über den »feigen Mord im
Pornokino«, ausführlicher als gewünscht, rechnete ihn aber
dem Milieu zu. Man hatte der Presse die kleinen lila Botschaften bislang
vorenthalten. Nabel seufzte. Was bitte war ein unfeiger Mord? Wenn man dem
Opfer eine Chance zur Gegenwehr oder zum Entkommen ließ? Würde
man das einen tapferen Mord nennen?
2
Miroslav Nentwig, fünfundvierzig,
ein Heizungsbauer mit eigenem kleinen
Weitere Kostenlose Bücher