Aussortiert
rauskommen.«
Lidia wußte, er hatte
wahrscheinlich recht, aber sie spürte, daß er von ihr etwas
anderes erwartete, als ihm einfach nur recht zu geben. Nabel war gedemütigt
worden, aber, das gab sie zu bedenken, auf sehr viel sanftere Weise als
etwa König. Leider, und das merkte Lidia zu spät, machte dieses
Argument die Sache nicht besser. Im Gegenteil. Kai hatte immer unter einer
Profilneurose gelitten, im tiefsten Inneren hatte er König bewundert,
sogar für dessen Tod. So menschlich in seinen Schwächen Nabel
auch war, so sehr litt er darunter, daß er einem Beruf nachging, der
höchste Erfüllung nur in der Überwindung des
Allzumenschlichen versprach. So wie ein Soldat, der sich um jede Schlacht
drückt, zwar froh um sein Leben, aber kein Soldat aus Überzeugung
sein kann. Möglicherweise betrachtete Kai seine Arbeit längst
als Spiel, doch selbst und gerade in einem Spiel zählt der
Punktestand, das Erfolgserlebnis, der Triumph. Bei Männern, die die
Vierzig überschritten hatten, besonders.
Lidia fiel es schwer, Verständnis
für solche Rudimente eines heroischen Weltbilds aufzubringen.
Immerhin erkannte sie Kais Problem und reduzierte es nicht simpel auf die
gekränkte Eitelkeit eines Mannes, der als Kind zuviel Sheriff&Outlaw-Szenen
nachgespielt hatte. Aber wie sollte sie ihm nun, in der konkreten
Situation helfen? Ihm raten, den Dienst zu quittieren, noch einmal etwas
ganz Neues zu versuchen?
Kai berührte sie mit
zwei Fingern an der Wange und drückte seinen Mund auf ihren. Er half
sich selbst. Lidia ließ es geschehen. Zu viele Gedanken bewegten und
hemmten sie zugleich, um aus dem scheuen Kuß mehr werden zu lassen.
Beide saßen danach noch einige Zeit stumm nebeneinander, bis das
Konzert der Vögel in den Bäumen einsetzte und mit ihm ein
zeitlupenhaft empfundenes, fast ins Unendliche gedehntes Crescendo der
Morgendämmerung.
22
Nabel hatte immer noch nicht
aufgegeben. Frühmorgens, ohne seine Wohnung betreten zu haben, fuhr
er mit dem Taxi aufs Revier, wollte Pfeifer aus dem Schlaf reißen
und in diesem Zustand, obwohl sein eigener kaum besser genannt werden
konnte, erneut zur Rede stellen. Aber Pfeifer lag seit Stunden im
Krankenhaus. Selbstmordversuch. So hieß es.
Nabel stellte die Beamtin zur
Rede, die Nachtdienst gehabt hatte, Gudrun Basemann, er konnte sie nicht
recht leiden, wußte jedoch nie, weswegen. Nun bot sie ihm einen
handfesten Grund.
»Was sollte ich tun?
Wir hören einen dumpfen Schlag, sehen nach und finden Pfeifer blutüberströmt
am Boden. Er ist mit voller Wucht, Kopf voran, gegen die Wand gerannt!«
»Ach? Und dann?«
»Wir haben ihn vom
Notarzt abholen lassen, was bitte sonst?«
»Haben Sie ihm eine
Bewachung mitgegeben?«
»Wozu? In dem Zustand,
in dem er war, halb tot! Außerdem – wer war denn hier um drei
Uhr nachts? Alle waren unterwegs.«
»Das kann doch nicht
Ihr Ernst sein! Warum haben Sie mich nicht wenigstens umgehend informiert?«
»Hab ich gemacht!«
Nabel sah auf sein Handy.
Nach der Pizzabestellung war der Akku leergelaufen. In seiner Wut beschloß
er, auch dies Frau Basemann anzulasten, aber stillschweigend, sonst hätte
es Erklärungsnöte gegeben.
»Welches Krankenhaus,
verflucht?«
Frau Basemann hatte es sich
aufgeschrieben, kramte in einem Wust von Zetteln und konnte ihn, eingeschüchtert
von Nabels Lautstärke, nicht sofort finden.
Pfeifer hatte einen alten und
simplen Trick benutzt. Er ritzte sich mit seinem Kugelschreiber ein nicht
sonderlich wichtiges Äderchen über der Stirn an, verrieb sich
mit den Handflächen Blut übers Gesicht, dann rannte er gegen die
Wand, nur eben nicht mit dem Kopf voran, sondern mit der Sohle seines
rechten Schuhs, was ein zumindest recht ähnliches Geräusch
ergab. Danach wälzte er sich, theatralisch röchelnd, auf dem
Boden und wartete auf die Ambulanz, die ihn komfortabel in die Freiheit
trug. Im Krankenhaus war Pfeifers Zustand weit weniger dramatisch
beurteilt worden als auf dem Revier, man hatte die Wunde genäht und
ihm ein Sedativ verpasst. Zwar diagnostizierte der Arzt eine mittlere
Gehirnerschütterung, doch mehr, um aus medizinischer Sicht auf der
sicheren Seite zu sein. Schließlich hatte der Patient gelallt und
sinnloses Zeug von sich gegeben.
Kaum eine Stunde später
war der Patient aus dem Einzelzimmer verschwunden, lange bevor Nabel
eintraf, um
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