Autobiografie einer Pflaume - Roman
voraus. ‹Und das Erdbeben›, sagt Mama zu der Ansagerin, ‹ist das für übermorgen vorgesehen? › Die Ansagerin lächelt Mama an. ‹Der Wirbelsturm Amandine aus der Karibik ist auf unserem Satellitenbild deutlich zu erkennen.› - ‹Mama, was ist ein Wirbelsturm?›, frage ich. ‹Ein ganz übler Sturm, der die Dächer von den Häusern reißt›, antwortet sie. ‹Aha›, sage ich. ‹Und warum heißt der üble Sturm Amandine?› Und sie antwortet: ‹Weil die üblen Stürme immer Frauen sind, so wie die Pute von deinem blöden Vater.› Ich frage: ‹Kann eine Pute denn Dächer von den Häusern rei ßen?› Und sie sagt: ‹Du tötest mir den letzten Nerv, Pflaume. Wenn du weiter so dumme Fragen stellst, schicke ich dich ins Bett.›»
«Ist das alles, was du im Fernsehen angeschaut hast?»
«O nein. DieVorher-Nachher-Show , Das Superquiz , Streit muss sein , Der rote Teppich,Wer wird Millionär? , das sind alles Supersendungen. Wir haben vor dem Fernseher gegessen, und danach
bin ich oft eingeschlafen und aufgewacht, wenn Mama mir mit einer Bierdose an die Birne geklopft und zum Fernseher gesagt hat: ‹Zeit, ins Bett zu gehen.› Und wenn wir einen Film angeschaut haben, dann hat Mama oft wie irre geweint. Sie hat gesagt, bei Liebesszenen müsste sie an meinen blöden Papa denken, und dann hat sie einen Schluck Bier getrunken und auf die Männer geschimpft - ‹diese Saukerle, diese Feiglinge, diese Drückeberger› -, und ich habe zu ihr gesagt, dass ich auch irgendwann ein Mann sein werde, und das hat sie ein bisschen beruhigt. Sie hat noch ein bisschen geschnieft, hat sich in die Papierserviette geschnäuzt und hat gesagt: ‹Stimmt, eines Tages wirst du ein Mann sein, aber du wirst mich auch wegen einer Pute sitzen lassen.› Und die nächste Runde Tränen war fällig. Und ich habe zu ihr gesagt, dass ich Puten nicht leiden kann und dass ich sie nie verlassen würde, weil sie so cooles Kartoffelpüree macht. Und dann hat sie gelacht und hat zum Fernseher gesagt: ‹Geh jetzt schlafen›, und ich habe Mama einen Kuss auf die Stirn gegeben und bin in mein Zimmer gegangen, und ich war traurig. Ich habe an meinen Vater gedacht, der ein Riese ist und den Kopf in den Wolken hat, und ich habe mir gedacht, dass der Himmel so gemein zu Mama war und dass ich sie rächen werde wie im Film und den Himmel umbringe, damit nie mehr Wolken zu sehen sind, die nur Pech pinkeln.»
«Gut, gut … Möchtest du ein Glas Wasser, mein Junge?», fragt der Richter, der an seinem Kuli kaut, über seine Blätter voller Wörter hinweg.
«Ja, danke, Monsieur, und darf ich danach spielen gehen? Nicht dass ich es bei Ihnen langweilig finde, aber ich habe Simon versprochen, ihn beim Schussern gewinnen zu lassen, auch wenn ich das gar nicht vorhabe.»
«Icare!», sagt Madame Papineau, als hätte ich einen Kraftausdruck benutzt.
«Nein, lassen Sie ihn, Madame Papineau. Ich habe mir genug Notizen gemacht. Eine letzte Frage, mein Junge. Gefällt es dir hier?»
Ich trinke das Glas Wasser, bevor ich antworte:«Ja, klar, das Essen ist in Ordnung, und ich habe jede Menge Freunde. Nur das Fernsehen, das ist nicht so toll. Wir dürfen nichts sehen außer Zeichentrickfilmen auf Video. Rosy sagt, die Fernsehnachrichten sind nichts für Kinder und Filme und Quizsendungen auch nicht. Rosy mag das Fernsehen nicht. Das ist dumm von ihr, sie könnte nämlich selbst darin auftreten. Ich könnte sie mir prima in der Vorher-Nachher-Show vorstellen, wenn sie sich total verändert im Spiegel anschaut.»
Darüber muss Madame Papineau lachen.
Der Richter steht auf und zieht sich lächelnd die Hose hoch.
«Du scheinst mir das Herz auf dem rechten Fleck zu haben, mein Junge. Immer optimistisch, das ist wichtig im Leben. Vor allem in deinem Leben wird dir das helfen.»
Ich verstehe nur Bahnhof, aber ich erwidere sein Lächeln und denke an Rosy, die mit mir zufrieden sein wird.
Ich glaube, dass ich einen guten Eindruck gemacht habe.
«Darf ich jetzt gehen?»
Und Madame Papineau sieht den Richter an, und beide sehen mich mit einem Lächeln an.
«Ja, Pflaume, geh zu deinen Freunden», sagt die Heimleiterin.«Aber keinen Krach, ich will euch nicht wie gestern von meinem Büro aus hören.»
«Nein, Ehrenwort, Madame Papineau.»
Und ich gehe rückwärts raus und bin sehr froh, als ich die Tür zumachen kann.
Heute ist Sonntag, und während ich auf Raymond warte, schalte ich das Radio ein, wo Aznavour singt, und das ist öde, und ich suche einen
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