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Bimmeln der Kuhglocken erfüllt. Die Sonne tauchte das Tal in strahlendes Licht, doch Saul hatte keinen Blick für die herrliche Umgebung. Er konnte an nichts anderes denken als an die Liste, die Misha ihnen gegeben hatte.
Und an den ersten Namen auf dieser Liste.
Sie stiegen aus.
Eine Frau mit schönen, fast männlichen Gesichtszügen kam ihnen aus dem Haus entgegen. Sie war Anfang dreißig und hatte eine gesunde Gesichtsfarbe. Ihr sonnengebleichtes Haar war kurz geschnitten. Sie trug derbe, knöchelhohe Schuhe, wollene Kniestrümpfe, eine Lederhose und ein blauweißkariertes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Sie starrte sie mit argwöhnisch zusammengekniffenen Augen an.
Erika sprach die Frau auf Italienisch an. »Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber man hat uns gesagt, daß Ephraim Avidan hier gewohnt hat.«
»Sind Sie Amerikanerin?« erwiderte die Frau auf Englisch.
»Nein, ich stamme aus Israel«, erwiderte Erika, »aber ich habe lange in den Staaten gelebt. Eigentlich spreche ich Englisch sogar besser als meine Muttersprache. Möchten Sie lieber... ?«
»Daß wir Englisch sprechen?« Die Frau schüttelte den Kopf und fuhr auf Italienisch fort: »Ich würde zwar ganz gern meine Englischkenntnisse etwas auffrischen, aber nicht, wenn es um Ephraim Avidan geht. Er hat hier gewohnt, aber er ist nicht
mehr hier.« Sie machte einen verdrießlichen Eindruck. »Gehören Sie zu den anderen Leuten, die sich schon mal nach ihm erkundigt haben?«
»Welche anderen?«
»Zwei Männer. Sie waren vor fünf Tagen hier. Sie haben behauptet, alte Freunde von Avidan zu sein. Allerdings waren sie mindestens dreißig Jahre jünger als er. Sie sagten ebenfalls, sie wären Israelis, und behaupteten, Avidan Geld zu schulden. Wirklich sehr gewissenhafte Schuldner, finden Sie nicht auch? Sie wollten wissen, wo er jetzt ist.«
»Und was haben Sie ihnen gesagt?«
»Das gleiche wie Ihnen - daß ich nämlich nicht weiß, wo er ist. Er ist ganz plötzlich abgereist. Im Februar. Eines Morgens war er einfach ohne Ankündigung verschwunden. Soweit ich das beurteilen kann, hat er nichts mitgenommen. Nach ein paar Tagen habe ich unseren Dorfpolizisten verständigt. Daraufhin wurde eine Suchaktion organisiert, aber wir haben seine Leiche nirgendwo gefunden.« Sie deutete den Berg hinauf. »Allerdings hatten wir damit auch nicht gerechnet. Niemand bricht mitten im Winter nachts zu einer Wanderung in die Berge auf. Selbstmord war also nicht auszuschließen, zumal er häufig an Depressionen gelitten hatte. Aber nachdem nirgendwo eine Leiche gefunden worden war... Der Dorfpolizist hat den Vorfall nach Bern gemeldet, worauf man sich dort der Sache annahm. Wir haben Avidan immer wie einen von uns behandelt, als ob er zu uns gehört hätte. Und er war auch immer freundlich zu mir. Er hat die Miete bezahlt, bevor er verschwunden ist. Ich hatte nie Probleme mit ihm.«
»Wie schön für Sie.«
Die Frau verschränkte die Arme über der Brust. »Und was ist mit Ihnen? Sind Sie auch >alte Freunde< von Avidan, die ihm Geld schulden?« Diese Frage war an Saul gerichtet.
»Nein, wir kennen Avidan gar nicht.«
Die Frau lächelte. Offensichtlich hatte sie nicht mit einer so aufrichtigen Antwort gerechnet.
Saul nickte in Richtung auf Erika. »Aber der Vater meiner Frau war mit Avidan befreundet.« Um der größeren Wirkung willen legte er eine kurze Pause ein. »Und ihr Vater ist ebenfalls verschwunden.«
Bei der Frau schienen sich Überraschung und Skepsis die Waage zu halten. »Und was ist, wenn Sie sich nur eine bessere Ausrede einfallen haben lassen als diese alten Freunde, die ihm angeblich Geld geschuldet haben?«
»Weshalb sind Sie eigentlich so mißtrauisch?« fragte Erika. »Wir wollen doch nichts weiter...«
»Mißtrauisch?« fiel ihr die Frau ins Wort. »Wären Sie das etwa nicht, wenn Ihr Mann Sie verlassen hätte..., wenn Sie sich plötzlich ganz allein um alles kümmern müßten...« Ihre Stimme wurde immer leiser. Sie starrte zu den Kühen auf der Weide hinüber. »Vermutlich wäre ich gar nicht mißtrauisch, wenn nicht dieser Geistliche gewesen wäre.«
Sauls Puls ging unwillkürlich schneller. »Welcher Geistliche?«
»Eigentlich hat er nicht gesagt, daß er ein Geistlicher ist. Er sah auffallend gut aus und gab sich als Wanderer aus. Er tauchte zwei Wochen vor den Israelis hier auf. Er hatte blaue Augen und blondes Haar. Für sein Abendessen hat er etwas Holz gehackt. Er war auffallend muskulös und kräftig gebaut. Vor
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