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sein. Der Mann schlug mit den Armen um sich, als versuchte er zu fliegen. Sein Schrei dauerte noch eine Weile an, um schließlich abrupt abzubrechen. Sein Mund blieb offen stehen. Er ließ seine Pistole fallen und umklammerte mit beiden Händen den Ast. Und dann stellte er sich kurz auf die Zehenspitzen, ließ die Hände sinken, starrte Saul mit seinem weit aufgerissenen gesunden Auge an und sackte zu Boden.
Bei Saul machten sich jetzt die Folgen des Grauens, der Angst, der Erschöpfung und der Kälte bemerkbar. Er mußte sich übergeben und konnte es kaum fassen, daß der Inhalt seines ausgekühlten Magens so stark dampfte. Taumelnd sank er gegen die Felsen zurück, hinter denen er sich versteckt hatte. Er umklammerte seinen Bauch, sackte würgend vornüber und sank in die Knie. Der verschneite Waldboden begann vor seinen Augen heftig zu wanken.
Ich werde sterben, dachte Saul. Ich habe es geschafft, aber ich werde sterben.
Sein Abscheu vor dem, was er eben zu tun gezwungen gewesen war, machte plötzlich unbändiger Wut Platz - über sich selbst, die Umstände, die Kälte und seine Schwäche. Er hob den Kopf und stieß eine wilden Schrei aus.
Nein! Wenn ich wirklich sterben soll, dann auf keinen Fall, weil ich aufgegeben habe!
Er richtete sich mühsam auf, stieß sich von den Felsen ab und kämpfte sich durch hohe Schneeverwehungen wieder den Berg hoch. Dabei hatte er ständig Erikas Gesicht vor Augen. Zeitweise verwandelte es sich in das seines Sohnes. Er war wild entschlossen zu überleben. Aber nicht um seiner selbst willen.
Für seine Frau und sein Kind.
Seine Schultern und Beine fühlten sich bleiern schwer an, aber er gab nicht auf. Er kämpfte sich den ersten Abhang hinauf und nahm sofort den nächsten in Angriff. Der Schnee stach in seinen Augen. Er verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden, rappelte sich mühsam hoch, stürzte wieder...
Und kroch schließlich auf allen Vieren weiter.
Höher hinauf.
Immer weiter.
Obwohl er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte spürte er, daß der Wind plötzlich heftiger über ihn hinwegfegte. Demnach mußte er längst die Baumgrenze hinter sich gelassen und das ungeschützte Felsplateau erreicht haben.
Doch das Plateau schien kein Ende zu nehmen. Je mehr er sich anstrengte, desto weniger schien er voranzukommen. Er stieß mit dem Kopf gegen einen Felsblock, und als er vergeblich darüber hinwegzuklettern versuchte, merkte er plötzlich, daß er auf eine Felswand gestoßen war.
Die Felswand am hinteren Ende des Plateaus.
Die Tür. Wenn seine Erinnerung ihn nicht täuschte, mußte die Tür irgendwo in dieser Wand angebracht sein. Aber in welcher Richtung? Links oder rechts? Sein Überleben hing davon ab, daß er zu einer raschen Entscheidung gelangte. Aufs Geratewohl entschied er sich für links.
Und fast hätte er die Tür übersehen, als er sie endlich erreichte. Seine Erschöpfung ließ keinerlei Freude in ihm aufkommen. Mit letzter Kraft scharrte er an der Tür. »Erika, ich bin's, Saul. Erika, mach mir auf.«
Der Schnee umhüllte ihn wie eine wärmende Decke. Er stürzte vornüber, als die Tür aufging, landete unsanft auf felsigem Untergrund.
Und hörte Erika aufschreien.
7
Erst dachte er, Erikas entsetztes Gesicht, das über ihm schwebte, wäre lediglich seiner Einbildung entsprungen, ähnlich der Vision von ihr, die ihm wie ein Leuchtfeuer den Weg durch den Schneesturm zur sicheren Höhle gezeigt hatte. Doch bevor er endgültig das Bewußtsein verlor, vermochte er gerade noch wahrzunehmen, daß er die Höhle erreicht hatte und eingelassen worden war.
Und dann bemerkte er ein schwaches, zischendes Licht. Es rührte von einer Petroleumlampe her. Ihr geradezu magischer Lichtschein fiel auf ein Regal mit Lebensmittelkonserven und Wasserflaschen, auf einen weißen Blechkasten mit einem roten Kreuz darauf und auf Pullover, Hemden, Hosen und Socken sowie ein Funkgerät.
Und zuletzt nahm er das wichtigste wahr - die Wärme. Doch sie schmerzte ihn. Er wand sich unter lautem Stöhnen, als Erika ihn auf die Lampe zuzerrte. Neben der Lampe stand ein Kerosinofen, dessen Dämpfe durch ein Loch in der Decke abzogen. Die Wärme auf seiner Haut ließ ihn zusammenzucken, Erikas Umarmung war mit kaum erträglichen Schmerzen verbunden. Er versuchte sich zu wehren. Doch ihm fehlte die Kraft.
Die Frau warf die Tür zu, so daß der Wind nicht mehr in die Höhle fuhr. Sie eilte auf Saul zu und legte ihm die Hand auf die Stirn. »Seine Temperatur ist zu niedrig.
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