AvaNinian – Zweites Buch
Fleck vor meinem Füßen. Ach ja, Ratten hörte ich, sie quiekten, und einmal bin ich auf eine getreten, widerlich, ich hab mich fast hingelegt. Die Steine waren ausgetreten und mit schleimigem Zeug bewachsen, wie die Ufersteine.
Die Vorstellung, schwer beladen hier lang zu laufen, vielleicht mit Verfolgern im Nacken, war nicht angenehm. Wenigstens stimmte das mit der Schrittzahl - genau bei achtzig verschwand die Wand unter meinen Fingern und ich stolperte in die Abtrittröhre. Sie war niedrig, ich musste mich bücken, aber immerhin konnte man hindurchlaufen ...«
»Sie haben einigen Aufwand mit ihrem Unrat getrieben, die Alten«, warf Vitalonga ein. »Die Röhren der großen Häuser waren alle so, dass man sie ohne Mühe reinigen oder auch durch sie entkommen konnte.«
»Tatsächlich? Na, da hatte ich ja Glück, auf allen Vieren wäre ich nicht gern da rein gekrochen, es wimmelte von Ratten. Auch so war es mühsam genug, die Rinne stieg etwas an, die Steine waren stark gebogen, ich musste einen Fuß vor den anderen setzen. Aber ich stieß auf den Schacht und fand, wie angekündigt, ein Bündel Fackeln. Eine davon zündete ich an, um die Wände zu untersuchen. Es wäre ein nettes Stück Kletterei gewesen - sie haben ihr Handwerk verstanden, diese Alten. Die Mauern waren vollkommen senkrecht und beinahe fugenlos, aber der Schacht war gerade so groß, dass ich mich wie in einem Kamin hätte hinaufstemmen können. Für die anderen hätte ich eine Strickleiter hinuntergelassen.
Etwas aber gefiel mir überhaupt nicht. Die Wände glitzerten und als ich die Fackel über den Kopf hob, sah ich weißgelbe Kristalle, der ganze Schacht, soweit das Licht reichte, war damit übersät. An die untersten kam ich gerade heran, ich berührte sie ... sehr vorsichtig und das mit Recht! Es brannte höllisch! Ich zog meine Hand schleunigst zurück und fand eine fette, rote Blase auf meinem Finger. Kalkblüte - der Kalk aus dem Mörtel hatte sich abgesondert und Blüten gebildet, schöne, glänzende, ätzende Blüten ...«
»Sie haben die Wände mit Kalk gestrichen, wegen der üblen Dünste.«
»Wie umsichtig von ihnen. Dadurch hielten sie auch unerwünschte Besucher fern. Offenbar wusste unser schlauer Auftraggeber nichts davon, ich hatte jedenfalls nicht vor, mich diesen verseuchten Schacht hinaufzuschieben. Ende der Vorstellung!« Jermyn zuckte die Schultern. »Babitt war nicht begeistert, als ich ihm meinen Rückzieher mitteilte. Er tobte, aber ohne mich konnte er nichts machen. Also hat er dem wandelnden Leichnam von Mittelsmann am nächsten Tag erklärt, dass die Sache geplatzt sei. Es war nicht leicht, dem Seelenlosen das klar zu machen. Ich musste es ihm schließlich in seinen Geist einprägen. Ein Gedankenmeister muss ihn bearbeitet haben - als ich ein bisschen in ihm herumschnüffelte, um etwas über diesen geheimnisvollen Auftraggeber zu erfahren, hörte der Kerl auf zu atmen und wäre fast abgekratzt. Na ja, bis dahin war es einfach gewesen: ein Auftrag, den man ablehnt, weil er nicht durchzuführen ist. Dann wurde es etwas anderes ...«
Ninian hatte sich aufgesetzt und ein harter Glanz lag in ihren Augen. Als Jermyn weitersprach, war der leichte Ton aus seiner Stimme verschwunden.
»Am Tag darauf kam Babitt in den Palast, weiß wie ein Laken. Er warf uns ein Päckchen auf den Tisch, in ein blutverschmiertes Tuch gewickelt. Das Tuch fiel auseinander und etwas rollte heraus. Ein abgehackter Finger, ein kleiner Finger, von einer Mädchenhand ...«
Ninian presste die Lippen aufeinander. Ihr Magen hatte sich umgedreht angesichts des grauen Dinges, des schwarz geronnenen Blutes, aus dem der weiße Knochen ragte, säuberlich abgetrennt. Sie hätte es gerne vergessen, doch das hässliche Bild schob sich beständig in ihre Erinnerung - immerhin hielt es ihre Wut wach.
Vitalonga hatte die Hände an den stummen Mund gehoben. Entsetzen und Mitleid standen in den matten Augen.
»Babitt erzählte uns, was geschehen war«, fuhr Jermyn fort, »er hat’s kaum rausgebracht, aber er musste. Der Mittelsmann hatte ihm das grässliche Ding in die Hand gedrückt. Bösartige Menschen hätten Babitts Mädchen in ihre Gewalt gebracht und würden ihr Entsetzliches antun, wie er an dem Fingerchen sehe. Sein Auftraggeber könnte sie im Zaume halten, aber wenn Babitt seine Liebste heil und im Ganzen wiederhaben wolle, solle er sich doch lieber entschließen, den Auftrag auszuführen. Wir würden von ihm hören, sobald er wieder eine Lücke in
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