AvaNinian – Zweites Buch
seufzte.
»Müssen wir da wirklich rüberklettern?«
»Sie werden einen Scheißlärm machen, wenn wir versuchen, sie zu öffnen«, knurrte Jermyn, »aber von mir aus kannst du auch fliegen.«
Die barschen Worte kränkten sie, aber er hatte schon die Bronzestäbe gepackt und begann sich hochzuziehen. Seine Bewegungen waren langsamer als sonst; während ihrer Flucht hatte er sich ab und zu an die Stirn gegriffen, das Atmen schien ihm Mühe zu machen. Er war verdrossen und sie ahnte den Grund.
Hand über Hand zogen sie sich an den Stäben hoch. Jermyn rutschte von einer anmutig gebogenen Blütenranke ab und klammerte sich am Gitter fest. Es klirrte metallisch - unerträglich laut, wie ihnen schien. Sie hörten es beide und erstarrten, aber die Wächter rührten sich nicht.
»Was war das?«, hauchte Ninian.
»Das Zeug, das ich aus dieser verfluchten Schatzkammer mitgenommen habe, es ist scheißschwer.«
»Soll ich dir etwas abnehmen?«, bot sie ihm an.
»Nein, verdammt noch mal, für was hältst du mich? Jetzt sei still und lass uns endlich über dieses elende Gitter klettern.«
Ninian presste die Lippen zusammen. Vorsichtig löste sie einen Zipfel ihres Kittels von einem geschwungenen Bronzeblatt. Sie würde ihn nicht mehr ansprechen.
Das Gitter bot keine weiteren Schwierigkeiten, wenn auch die geflammten Spitzen an den Enden der Stäbe furchteinflößend aussahen. Lautlos landeten sie auf der anderen Seite und schlichen sich an die riesigen Türflügel. In ihrem Schatten ließ sich Jermyn gegen das kalte Metall sinken.
»Wie viele Deppen steh’n da draußen?«, fragte er müde.
»Sechs«, erwiderte sie kurz angebunden, »wir haben es lange genug ausgekundschaftet!«
Jermyn rieb sich die Nasenwurzel, er stöhnte leise und ihr Ärger schmolz dahin. Die Täuschung der Wachen musste ihn viel Kraft gekostet haben.
»Du hast nichts mehr übrig, was?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Keinen Funken, das letzte hat Duquesne abbekommen.«
Er hatte Glück gehabt, dass es nur die Reste des kalten Feuers gewesen waren. Unwillkürlich krümmte sie die Finger, als sie an die blitzende Klinge über Jermyns gebeugtem Nacken dachte.
»Ich könnte nicht einmal meine Bilha anzünden.«
Jermyn fluchte leise und spähte hinaus. Der große Platz lag noch im Dunkeln, aber wenn der Wind die Wolken auseinandertrieb, glänzte das Mondlicht auf dem bunten Pflaster und spiegelte sich silbern auf den eingelassenen Feldern des Himmelsspiels.
Von seinem Standpunkt aus konnte er den Platz nicht ganz überblicken, aber er wusste, dass nach Osten der Abstand zu den Häusern und damit zum rettenden Labyrinth der Gassen am geringsten war. Doch zuerst mussten sie an den Wachen vorbei.
Er atmete tief; es hatte keinen Sinn, sich zu erregen. Je stärker sein Ärger war, desto schwerer würde es ihm fallen, seinen Geist richtig zu gebrauchen.
»Wir gehen ohne Eile durch das Tor«, flüsterte er. »Für die Wachen wird alles seine Ordnung haben, sie werden uns nicht aufhalten, hoffe ich. Wenn sie uns ansprechen, neig einfach den Kopf und geh weiter. Du musst mich wieder mal führen. Es ist einfacher, wenn ich nicht auch noch auf die Außenwelt achten muss. Bleib nicht stehen. Wenn wir die Treppe runter sind, gehen wir nach Osten, und wenn wir in den Gassen sind, nehmen wir die Beine in die Hand. Ich hab ein ungutes Gefühl, Duquesne ist ein Rattenbeißer, so schnell gibt der nicht auf. Los jetzt!«
Mit wenigen Schritten standen sie unter dem gewaltigen Torbogen, dann griff Jermyn nach Ninians Hand, holte noch einmal tief Luft und zog sich aus der körperlichen Welt zurück.
Er weitete seinen Geist, bis er die schwach leuchtenden Geistsphären der sechs Wachen umfasste. Sie erwachten aus ihrer schläfrigen Starre, als sie die beiden grauen Gestalten sahen, aber Jermyn dämpfte den kurzen Moment der Aufmerksamkeit zu gleichgültigem Erkennen.
Nur zwei Laienbrüder, die bis tief in die Nacht dem Schatzmeister geholfen hatten - nicht der Beachtung wert. Spür meine Füße kaum ...
Eine leichte Übung nach der Anstrengung, die ihn die Täuschung der Palastwachen gekostet hatte, aber sein Geist war ebenso erschöpft wie seine Glieder. Heftige Gefühle schwächen die geistigen Kräfte ebenso wie große körperliche Mühen. Wenigstens konnte er sich auf Ninian stützen.
Ohne den Stein unter seinen Füßen oder den kalten Wind auf seinem Gesicht zu fühlen, schritt er die endlos scheinende Treppe hinunter, verfolgt von den trägen, unklaren
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