Axis
eine autorisierte Bearbeitung, erschienen in den Vereinigten Staaten. Sie war von einem Gremium aus Wissenschaftlern und Regierungsbeamten herausgegeben worden und eingestandenermaßen unvollständig. Aber Wun hatte vor seinem Tod dafür gesorgt, dass unredigierte Ausgaben des Textes über private Kanäle verbreitet wurden, zusammen mit etwas noch Wertvollerem: marsianischen »Pharmazeutika«, darunter das Präparat, das der durchschnittlichen menschlichen Lebensspanne dreißig Jahre oder mehr hinzufügte – durch die sogenannte Vierten-Behandlung, deren Verlockungen Lises Vater offenbar erlegen war.
Angeblich gab es inzwischen eine große Anzahl von Vierten auf der Erde. Allerdings fehlten die ausgefeilten sozialen Strukturen, die das Leben ihrer marsianischen Vettern regelten. Gemäß eines UN-Abkommens, das von so gut wie allen Mitgliedsstaaten unterzeichnet worden war, war die Behandlung illegal, und die Haupttätigkeit des Ministeriums für Genomische Sicherheit in den Vereinigten Staaten bestand darin, Vierten-Kulte, sowohl echte als auch betrügerische, zu zerschlagen und den Handel mit »verbesserten« menschlichen und tierischen Genen zu kontrollieren. Das waren also die Leute, für die Lises Exmann arbeitete.
»Wir haben noch nicht viel über dieses Thema gesprochen«, sagte Lise.
»Wir haben über alles Mögliche noch nicht annähernd genug gesprochen.«
Ihr Lächeln, so flüchtig es war, erfreute ihn.
»Kennst du irgendwelche Vierten?«, fragte sie.
»Wenn ich einen sähe, würde ich ihn nicht als solchen erkennen.«
»Weißt du, hier in Port Magellan läuft es nämlich anders. In der Neuen Welt allgemein. Den Gesetzen wird nicht auf gleiche Weise Geltung verschafft wie auf der Erde.«
»Das soll sich jetzt ändern, wie ich höre.«
»Genau deswegen will ich ja auch herausfinden, wofür sich mein Vater interessiert hat, bevor das alles gelöscht wird. Es heißt, es gibt eine Untergrundbewegung von Vierten in der Stadt. Vielleicht mehr als eine.«
»Ja, das habe ich auch gehört. Ich habe vieles gehört. Nicht alles ist wahr.«
»Informationen aus zweiter Hand kann ich kriegen, so viel ich will – wichtig wäre es, wenn ich mit jemandem sprechen könnte, der direkte Erfahrungen mit der Vierten-Gemeinde hier hat.«
»Hm, das könnte ja Brian für dich arrangieren – wenn das Ministerium mal wieder einen verhaftet.« Es tat ihm sofort leid, es gesagt oder jedenfalls so schroff ausgedrückt zu haben.
Lises Gesichtsmuskeln spannten sich. »Brian und ich sind geschieden, und ich bin nicht dafür verantwortlich, was das Ministerium macht.«
»Aber er interessiert sich für dieselben Leuten wie du.«
»Aus anderen Gründen.«
»Hast du je darüber nachgedacht? Ob er dich vielleicht benutzt? Sich deine Recherchen zunutze macht?«
»Brian bekommt meine Arbeit nicht zu sehen. Niemand bekommt sie zu sehen.«
»Auch nicht, wenn er dich mit der Frau lockt, der womöglich schon dein Vater auf den Leim gegangen ist?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob du das Recht hast…«
»Vergiss es. Ich bin nur, nun, besorgt.«
Lise war ganz offensichtlich drauf und dran, ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen, doch dann neigte sie den Kopf zur Seite und dachte erst einmal darüber nach. Das war etwas, was Turk gleich an ihr bemerkt hatte, die Gewohnheit, eine bestimmte Situation sozusagen von außen zu betrachten, bevor sie ein Urteil fällte. »Stell keine falschen Vermutungen über mich und Brian an. Die Tatsache, dass wir miteinander reden, bedeutet nicht, dass ich ihm irgendeinen Gefallen tue.«
»Gut, dann wissen wir ja, wo wir stehen.«
Gegen Mittag war der Himmel wieder grau, doch diese Wolken waren Regenwolken, nichts Exotisches, und sie brachten einen für die Jahreszeit ungewöhnlichen Platzregen – der, wie Turk dachte, sich letzten Endes segensreich auswirken könnte: Er würde einen Teil der Asche in den Boden oder ins Meer spülen und vielleicht dazu beitragen, die Ernte zu retten, falls das noch möglich war. Der Fahrt von Port Magellan nach Süden jedoch, die er unternahm, nachdem er sein Auto vom Parkplatz des Harley’s abgeholt hatte, war der Regen nicht förderlich. Ein glitzernder Aschebelag machte die Straßen zu einer rutschigen Angelegenheit. Bäche und Flüsse waren lehmfarben und schäumten in ihren zu eng gewordenen Betten. Als die Straße über die Gebirgskämme führte, konnte Turk den Schlick sehen, der sich aus einem Dutzend trübbrauner Deltas ins Meer wälzte.
Er
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