Axis
sich ein. Sie waren überall.
Was ließ sich sonst über sie sagen? Ein Netzwerk von so gewaltiger Größe, dass es eine ganze Galaxis umspannte, war nichts anderes als eine Naturgewalt. Man konnte nicht mit ihm verhandeln, ja, man konnte es nicht einmal ansprechen. Es interagierte mit der Menschheit über unmenschliche Zeiträume hinweg, seine Worte waren Dekaden, seine Gespräche vom Prozess der Evolution nicht zu unterscheiden.
Dachte es? Stelle es Überlegungen an, ging es mit sich zu Rate, entwickelte es Ideen und handelte es danach? War es, mit anderen Worten, ein Wesen oder nur ein gewaltiger, komplexer Prozess?
Die Marsianer hatten jahrhundertelang über diese Fragen gestritten. Als Kind hatte Sulean immer wieder zugehört, wenn die älteren Vierten diskutierten. Sie hatte keine eindeutige Antwort – die hatte niemand –, aber ihre Vermutung war, dass die Hypothetischen kein Zentrum besaßen, keine operative Intelligenz. Sie taten unvorhersehbare Dinge – doch das galt auch für die Evolution.
Die Evolution hatte ohne jede zentrale Lenkung komplexe, interdependente biologische Systeme geschaffen, und waren die selbstreproduzierenden Maschinen erst einmal auf die Galaxis losgelassen worden (vielleicht von einer längst untergegangenen Spezies, lange bevor Erde oder Mars aus dem Sternenstaub kondensiert waren), hatten sie der gleichen Logik unterlegen, der Logik der Konkurrenz und Mutation. Was mochte daraus, über Milliarden von Jahren hinweg, nicht alles entstanden sein? Maschinen von gewaltigen Dimensionen, gewaltiger Macht, halb autonom, »intelligent« in einem gewissen Sinne – der Torbogen, die Zeitfalte –, ja, all das. Aber ein zentrales, steuerndes Bewusstsein? Ein Sinn stiftender Geist? Sulean bezweifelte das. Die Hypothetischen waren nicht ein einziges Wesen – sie waren das, was geschieht, wenn die Logik der Selbstreproduktion die unendliche Leere des Weltraums ergreift.
Der Staub alter Maschinen war auf die Wüste gefallen, und aus diesem Staub waren seltsame, verkümmerte Fragmente gewachsen. Ein Rad, eine Röhre, eine Rose mit einem kohlrabenschwarzen Auge. Und Isaac interessierte sich für den Westen. Was bedeutete das? Hatte es überhaupt eine Bedeutung?
Es bedeutete, dachte Sulean, dass Isaac einer Macht geopfert wurde, die so gleichgültig war wie der Wind.
Am Morgen bekam Sulean von Mrs. Rebka die Erlaubnis, den Jungen in seinem Zimmer zu besuchen. »Sie werden sehen«, sagte sie mürrisch, »warum wir alle so besorgt sind.«
Isaac lag schlaff unter einem Knäuel Decken. Seine Augen waren geschlossen. Sulean berührte seine Stirn, fühlte das Glühen des Fiebers.
»Isaac«, seufzte sie, an den Jungen wie an sich selbst gerichtet. Seine Reglosigkeit rief zu viele Erinnerungen wach. Es hatte schon einmal so einen Jungen gegeben, schon einmal so ein Fieber, schon einmal so eine Wüste.
»Die Rose«, sagte Isaac.
Sulean erschrak. »Was?«
»Ich erinnere mich an die Rose. Und die Rose – sie erinnert sich.«
Die Augen geschlossen, so, als schliefe er noch, hob er sich in eine sitzende Position. Sein Kopf schlug gegen das hintere Brett des Bettes. Seine Haare waren schweißnass. Wie unsterblich die Menschen doch erscheinen, wenn sie gehen, laufen, springen, dachte Sulean. Und wie zerbrechlich, wenn sie das nicht mehr können.
In diesem Moment öffnete Isaac die Augen. Die Iris darin war verfärbt, als wäre ihr blasses Blau mit Goldfarbe besprenkelt worden. Er sah Sulean an und lächelte.
Und dann sagte er etwas, sagte etwas in einer Sprache, die Sulean seit Jahrzehnten nicht mehr gehört hatte. Ein marsianischer Dialekt aus der dünn besiedelten Einöde im Süden.
Er sagte: »Du bist es, große Schwester! Wo warst du die ganze Zeit?«
Von einem Augenblick zum nächsten schlief er wieder ein, und Sulean blieb zitternd im Widerhall seiner Worte zurück.
13
Am nächsten Morgen flog ein Hubschrauber dicht über das Minang-Dorf hinweg, und obwohl das durchaus harmlose Gründe haben mochte – Holz verarbeitende Unternehmen begutachteten das Gelände seit Monaten –, versetzte es die Bewohner in Unruhe und veranlasste es Ibu Diane vorzuschlagen, dass sie schnell aufbrechen sollten. Dableiben sei riskanter als fortzugehen, sagte sie.
»Wo wollen wir hin?«, fragte Lise.
»Über die Berge. Kubelick’s Grave. Turk wird uns hinfliegen, nicht wahr, Turk?«
Er dachte kurz nach. »Könnte sein, dass ich eine Brechstange dafür brauche. Aber davon abgesehen, ja
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