Axis
weiße Haare, dunkle Haut, er war sehr dünn – und er war nicht Turk Findley. Die drei Frauen waren etwa im gleichen Alter. Keine von ihnen sah wie Sulean Moi aus. Und mit Sicherheit war keine von ihnen Lise Adams.
»Lockvögel!« Weils Stimme vibrierte vor Zorn.
»Finden Sie heraus, wer sie sind und was sie wissen«, sagte Sigmund zu dem Wachmann im Flur.
Weil zog Brian mit nach draußen. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Ja… ja, mir geht’s gut.«
Es ging ihm nicht gut. Er stellte sich die vier Gefangenen mit Löchern im Schädel vor, an irgendeinen Strand gespült oder in der Wüste verscharrt, die verschrumpelten Körper unter einer Erdschicht liegend – der blutige Preis für ihre Langlebigkeit.
19
Dvali fuhr bis zum Abend, immer nach Norden, und in dieser Zeit machte sich Lise ein genaueres Bild von ihm.
Er war – vor allem anderen – sehr fürsorglich gegenüber dem Kind, Isaac.
Sie saßen in einem großen Jeep, einer von denen, die mit jedem Terrain fertig wurden. Der Wagen war für sechs Personen ausgelegt, aber sie waren zu siebt – Lise, Turk, Diane, Anna Rebka, Sulean Moi, Dvali und Isaac – und mussten daher ein wenig zusammenrücken.
Turk hatte dafür plädiert, die Skyrex zu nehmen, doch Dvali und Anna Rebka konnten ihm das ausreden – ein Flugzeug wäre leichter aufzuspüren und schwerer zu verstecken als ein Auto. Sie würden die Maschine aber zur Ablenkung benutzen, sagte Dvali. Vier Mitglieder der Gemeinschaft, unter ihnen ein ausgebildeter Pilot, hätten sich bereit erklärt, damit nach Westen zu fliegen. Vermutlich würden sie aufgegriffen werden, doch sie wüssten, worauf sie sich einließen. Sie hätten keine Angst zu sterben, sollte es so weit kommen. Eine der Ironien der marsianischen Lebensverlängerung bestehe darin, dass sie zugleich die Angst vor dem Tod mildere. Ob sie denn auch etwas gegen die Angst vor Zahlungsunfähigkeit hätten, fragte Turk.
Sie verließen also das Gelände zusammen mit einem Dutzend anderer Fahrzeuge, die sich allerdings gleich in verschiedenste Richtungen zerstreuten, sei es auf vorhandenen Wegen oder mitten durch die Wüste. Sprengstoff war gelegt worden, um zu verhindern, dass die Anlage den Behörden in die Hände fiel. Sie waren schon zu weit entfernt, um die Explosion mitzuerleben, aber Lise konnte die Rauchwolke am Horizont aufsteigen sehen. »Was ist, wenn die MfGS-Agenten schon vor der Detonation eingetroffen sind?«, fragte sie Dvali.
»Sie wissen, was sie in solchen Situationen zu erwarten haben. Wenn sie das Gelände verlassen vorgefunden haben, dann musste ihnen klargewesen sein, dass es gesprengt werden würde.«
»Trotzdem besteht die Möglichkeit…«
Dvali zuckte mit den Achseln. »Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit.«
»Ich dachte, Vierte wären gegen Gewalt.«
»Wir sind empfänglicher für das Leiden anderer als nicht-veränderte Menschen. Das macht uns verwundbar. Es macht uns aber nicht dumm. Und es hält uns nicht davon ab, Risiken einzugehen.«
»Auch Risiken für das Leben von Menschen?«
Sulean Moi – Diane zufolge eine entstellte Marsianerin, die für Lise aber eher wie eine dieser Apfelpuppen aus den Appalachen aussah – lächelte süffisant. »Wir sind keine Heiligen, das sollte mittlerweile klar geworden sein. Wir treffen moralische Entscheidungen – oft sind es falsche Entscheidungen.«
Eigentlich wollte Dvali die Nacht durchfahren, doch sie konnten ihn überzeugen, anzuhalten und in einer Lichtung ein Lager aufzuschlagen. Kiefernwälder zogen sich über die gebirgige Wasserscheide Äquatorias. Aufgrund der Höhe regnete es hier einigermaßen regelmäßig, und es gab sogar einen Bach, aus dem sie Trinkwasser schöpfen konnten. Das Wasser kam, wie Lise vermutete, von den Gletschern in den Tälern der Hochpässe. Seine Kälte rief eine angenehme Erinnerung an jene Zeit wach, als ihr Vater – sie war damals zehn – sie zum Skifahren nach Gstaadt mitgenommen hatte. Sonnenschein auf Schnee, das Ächzen der Lifte, der die eisige Luft durchschneidende Klang von Lachen: weit weg, Jahre und Welten entfernt.
Sie half Turk, einen Eintopf aus Fleisch und Gemüse auf einem Propanherd aufzuwärmen. Er wollte unbedingt vor Einbruch der Dunkelheit das Essen fertig haben und die Herdplatte wieder abkühlen lassen, für den Fall, dass Drohnen über ihnen schwebten und nach ihrer Hitzesignatur Ausschau hielten. Dvali sagte, er glaube nicht, dass ihre Verfolger einen solchen Aufwand treiben
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