Azrael
neben einem Felsen und erinnerte sich an etwas, was er Sophie erzählen wollte. Aber sie kam ihm zuvor.
»Az«, begann sie und unterbrach sich. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Dann befreite sie sich aus seinem Griff und wich seinem prüfenden Blick aus, und sie blieben stehen. »Ich bin so verwirrt.«
In seinem Kopf schrillten Alarmglocken. »Das weiß ich«, sagte er, wollte sie umarmen und trösten.
Abwehrend hob sie ihre Hände, trat zurück und wandte sich ab. »Nein, du weißt es nicht«, erwiderte sie leise, aber entschieden. »Schon immer warst du ein Erzengel – und dann ein Vampir. Du ahnst nicht, was man empfindet, wenn man machtlos ist, ein aufgezwungenes Schicksal ertragen und eine Katastrophe nach der anderen verkraften muss.« Unglücklich sah sie ihn wieder an. »Az, du …« Abrupt verstummte sie, als würde sie nicht wagen weiterzusprechen.
In diesem Moment konnte er ihre Gedanken nicht lesen. Wieder einmal verschloss sie sich. Von Gregori beeinflusst? Oder war sie, seit sie ihre Sternenengelmacht nutzen konnte, so stark wie er, der Erzengel? Was verschwieg sie? Das musste er erfahren. Obwohl er sich davor fürchtete. »Was ist mit mir?«
In jäher Stille warteten die Nacht und das Meer und der Himmel auf die Antwort.
Schaudernd schlang sie ihre Finger so fest ineinander, dass sie weiß wurden. »Du hast mir meine Eltern genommen.«
Eine Welle schlug gegen die Küste. Durch Azraels Brust schoss ein stechender Schmerz. Nein, dachte er verzweifelt. Sophie musste sich irren. Mit dem Tod ihrer Eltern hatte er nichts zu tun, diesen Teil ihres Lebens hatte er nicht beeinflusst. Selbst als Todesengel, auf seinen Streifzügen durch das Universum, hatte er zwar eine ungeheure, aber begrenzte Macht besessen. Er hatte Seelen von einem Ort zum anderen geführt. Doch sie waren nach ihren eigenen Gesetzen aufgetaucht, keinen Moment früher oder später.
Sophie hatte das Schicksal erwähnt. Und niemand konnte seinem Schicksal entrinnen, das gehörte ebenso zur Existenz wie das Bewusstsein. Jeder war ein Sklave des Schicksals, das ihn durchs Leben und umher und schließlich auf die andere Seite trieb.
Sein eigenes Schicksal hatte Az niemals steuern können. Hätte er vor der Wahl gestanden, wäre er nicht gewesen, was er einst war. Hätte er die Vergangenheit ändern können, hätten ihn die Verstorbenen und die Hinterbliebenen nicht gehasst.
Dass er nicht hatte entscheiden können, wann jemand sterben musste, würden die Sterblichen niemals begreifen, geschweige denn akzeptieren. Zu viel Leid war mit dem Phänomen des Todes verbunden.
Er hatte Sophies Eltern nicht getötet. Aber sie war im Schmerz ihres Verlustes gefangen, und nichts verbitterte eine Seele so qualvoll wie der Groll gegen ein ungerechtes Schicksal.
»Sophie«, flüsterte er und trat hinter sie. »Süße Sophie. Am Tod deiner Eltern bin ich schuldlos. Wäre ich am Unfallort gewesen, hätte ich Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um sie zu retten.« Schaudernd blickte er auf und erwartete, ein Blitz würde ihn treffen, als er die Bedeutung seiner nächsten Worte erkannte. Doch das war ihm egal. Wahrheitsgemäß und entschlossen fügte er hinzu: »Um dir dieses Leid zu ersparen, hätte ich meine Flügel geopfert. Ich hätte auf alles Wichtige in meinem Dasein verzichtet, hätte ich dir das Lächeln deiner Mutter und das Lachen deines Vaters erhalten können.«
Reglos stand sie da. Die Brandung schlug auf den Sand, Möwen versammelten sich auf den Felsen und erwarteten eine herangespülte Mahlzeit. Am Himmel war es still. Aber Azrael hörte Sophies Blut durch die Adern rauschen, ihr Herz rasen, ein Zeugnis ihrer Verblüffung. Langsam drehte sie sich zu ihm um, die Augen voller Trauer. Der Atem stockte ihr, und er fragte sich, ob sie ihn fürchtete.
»Az …« Ihre Stimme bebte. »Heißt das, du hättest dich gegen den Alten Mann gestellt, um …« Wieder verstummte sie. Wagte sie nicht auszusprechen, was sie dachte?
»Alles hätte ich getan, um dich zu schützen«, versicherte er ihr, ohne zu zögern.
Sie konnte nichts sagen, kaum denken. So groß und stark stand Azrael vor ihr. Und so gefährlich. In höllischem Feuer glühten seine goldenen Augen und zogen sie in den Bann seiner unverhohlenen Gefühle.
Von dieser Fessel gefangen, versuchte sie zu begreifen, was er soeben erklärt hatte. Aber er ersparte ihr eine Antwort, ging zum Wasserrand, und sie schaute ihm nach.
Vor einem glatten schwarzen Stein, der wie der
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