Azulamar: Der Erbe von Atlantis (German Edition)
werden, bevor du überhaupt nur ›Hallo‹ sagen kannst.«
Ich zog die Karte heraus.
»Ich habe einen Plan des Gebäudes. Er ist schon ein wenig älter, aber im Prinzip dürfte der Aufbau der gleiche geblieben sein.«
»Ahh! Ausgezeichnet! Sag das doch gleich!« Er riss mir das Papier förmlich aus den Händen, breitete es auf dem Couchtisch aus und beschwerte es mit einem leeren Aschenbecher.
»Okay …«, murmelte er, »das hier ist der Haupteingang … Und das sieht wie ein Treppenhaus aus.« Er ließ seinen Finger über die Skizze gleiten. »Hier sieht nichts ideal dafür aus, um jemanden festzuhalten.«
»Ich schätze, dass es eher um die Laborbereiche unter der Erde geht«, vermutete ich. »Es ist doch recht praktisch, jemanden in einer unterirdischen Zelle einzusperren, oder nicht?«
»Da hast du vermutlich recht. Und zwar, weil man sehr schwer da drankommt. Mit großem Waffenaufgebot und dem Ausspielen der größten Namen des schwarzen Viertels von Los Angeles wird das nichts, Kleines. Gregory sitzt am längeren Hebel und er ist unantastbar. Wir müssen River ohne viel Aufsehen herausholen oder wir gehen dabei drauf.«
Ich nickte zustimmend. Aber wie? Wie sollten wir das bewerkstelligen?
Mir fiel plötzlich ein gestrichelter Balken auf der Karte auf.
»Was ist das? Das sieht so aus, als würde es durch die Zimmer gehen und auch durchs Treppenhaus …«
Ribbon drehte die Karte ein Stückchen zu sich herum, runzelte leicht die Stirn – und dann entspannte sich sein Gesicht wieder.
»Kleines, du bist ein Goldstück!«, rief er lachend. »Du hast den Lüftungsschacht gefunden! Und der muss mit der Außenanlage verbunden sein …«
Er blickte mich an, musterte mich kurz. »Du bist schlank genug, um durch einen solchen Lüftungsschacht durchzukommen, River ist aber zu groß. Das bedeutet, wir bekommen dich mit ein bisschen Glück rein, aber euch beide nicht mehr raus. Das ist immer so bei Gefängnissen: Es ist ein Kinderspiel, reinzukommen; erst, wenn man rauswill, bekommt man Probleme.« Ribbon lachte auf, fuhr sich durch sein Haar und trommelte unruhig mit den Fingern auf der Tischplatte herum.
Ich konnte sehen, wie seine Augen hin und her schossen, jeden Winkel des Planes erfassten, und wie sein Gehirn fieberhaft nach einer Lösung suchte.
»Ich muss es riskieren, Ribbon«, sagte ich leise.
»Was sagst du?«, fragte er und drehte sich zu mir herum.
»Ich – ich muss es riskieren. Für River. Wahrscheinlich wird der Fluchtweg sich einfach ergeben, wenn wir unten sind.«
»Und wenn nicht?«, hakte Ribbon nach.
Ich hob kraftlos die Schultern an: »Wenn wir es nicht versuchen, dann stirbt River dort unten.«
»Wenn wir scheitern, Ashlyn, dann muss dir klar sein, dass Gregory eventuell sogar deinen Tod in Kauf nehmen würde«, erwiderte Ribbon, mich eindringlich ansehend. »Bist du so heldenhaft, dass du es wagst?«
Seine Frage brachte mich aus dem Konzept. Nein, ich war keine Heldin. Ich war ein normales Mädchen, das sich bis vor wenigen Wochen nur Gedanken um die richtigen Freunde, die richtigen Klamotten und die richtigen Partys gemacht hatte. Ich hatte für den Augenblick gelebt und nicht für die Ewigkeit. Mein Auto, das jetzt auf dem Meeresgrund lag, versinnbildlichte perfekt, was meine Vergangenheit war: eine Zeit, die untergegangen war unter all den neuen Erfahrungen.
Ich war nie eine Heldin gewesen. Gut, für Freunde und Familie hatte ich einen gewissen Beschützerinstinkt und ein scharfes Gerechtigkeitsbedürfnis empfunden, man hatte mir vertrauen können, wenn man mir ein Geheimnis verriet – aber ich konnte mich mit dem absolut Guten nicht identifizieren. Mein Leben war nicht dafür geschaffen worden, um eine Heldin, eine Kriegerin des Guten zu sein. Viel lieber hätte ich mich retten lassen. Ich wollte nur in meinem Turm bleiben und warten, bis ein Ritter in strahlender Rüstung es schaffte, die obersten Gemächer zu erklimmen, um mich zu befreien. River war mein Retter gewesen, viele Male.
Jetzt brauchte er mich.
Und ich brauchte ihn. Ich brauchte ihn, vermisste ihn, wie die Blumen die Sonne in einer dunklen, finsteren Nacht vermissen. Ohne River war ich ohne Bezug, ohne Halt, er war meine Schwerkraft, ohne mir meine Freiheit zu nehmen. Nur durch ihn hatte ich Azulamar kennengelernt und meine magische Fähigkeit errungen, nur durch ihn war in mir der rebellische Wunsch geweckt worden, ein besserer Mensch zu werden.
Wir hatten einander verändert, so wie die Gezeiten
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