Babel Gesamtausgabe - Band 1-3
Stimme vermissen.
Auf dem Weg zu Clarissa begleitete Babel ein merkwürdiges Gefühl. Die Straßen sahen aus wie immer, als hätte sich nichts geändert. Dabei spürte sie immer noch den kalten Hauch an ihren Händen spüren.
Hilmar war noch bei ihr.
Dieser Geist, den sie nicht vergessen konnte. Den sie geliebt hatte, als er noch am Leben gewesen war – und der sie geliebt hatte. Nicht wie ein Liebhaber oder ein Vater, sondern wie jemand, der sehen konnte, wo man steht, weil er selbst einmal an diesem Punkt im Leben gewesen war, und der deshalb Verständnis aufbrachte. Ohne zu urteilen.
War das Liebe? Dass man sich auch noch als Toter nicht von den Lebenden trennen konnte, die einem etwas bedeutet hatten? Bisher hatte Babel immer geglaubt, dass die Toten nichts mehr so stark empfanden wie die Lebenden. Und sie hatte darin den Vorteil des Jenseits gesehen; es regte einen einfach nichts mehr auf.
Aber vielleicht war das zu kurz gedacht. Vielleicht verhinderte die Liebe, dass man jemals loslassen konnte – und vielleicht war das auch ein Trost.
Am Beginn der Straße, in der Clarissa wohnte, parkte Babel die Maschine, und es dauerte nicht lange, bis die beiden Wagen in ihrer Nähe zu stehen kamen. Sie beobachtete, wie die anderen ausstiegen und auf sie zukamen, während sie mit dem Hintern an der Maschine lehnte. Eine ungewohnte Zärtlichkeit stieg in ihr auf.
Deine Familie. Sieh zu, dass du sie nicht verlierst.
»Kannst du einen Ablenkungszauber auf diesen Teil der Straße legen?«, fragte sie ihre Mutter, als sie neben ihr standen. »Ich habe keine Lust, dass hier Passanten vorbeimarschieren, wenn wir dabei sind, Clarissas Haus auseinandernehmen.«
Maria nickte und zog zwei ihrer Armreifen ab, die sie unter einen Baum legte. Kurz darauf leerte sich die Straße.
In diesem Augenblick stürzten sich zwei Krähen von einem der Dächer und landeten rechts und links auf Judiths Schulter. Große Vögel mit spitzen Schnäbeln und scharfen Krallen.
Einen Moment lang starrten sie alle Judith an, die wie eine Gestalt aus einem Fantasyfilm aussah.
»Was?« Sie hob unschuldig die Hände. »Habt ihr gedacht, ich verzichte auf meine beste Waffe?«
»Das ist deine beste Waffe?«, fragte Sam skeptisch, aber Judith lächelte ihn nur kalt an.
»Sie sind darauf trainiert, dir die Haut von den Knochen zu picken und die Augäpfel aus den Höhlen zu reißen.«
»Das ist neu«, kommentierte Babel halb beeindruckt, halb entsetzt. »Früher hast du dich mal damit begnügt, deinen Nachbarn und mich auszuspionieren.«
»Ja, aber bei dir wurde es mir irgendwann zu … bunt.« Judith lächelte erst Sam und dann Tom an, der tatsächlich nervös zur Seite schaute.
Es würde Babel nicht wundern, wenn Judith eine Ameise manipuliert hätte, durch deren Augen sie hatte sehen können, was im Keller passiert war. Bei dem Gedanken daran wurde ihr warm, und Sams Grinsen nach zu urteilen, wusste er genau, woran sie gerade dachte.
Sie räusperte sich. »Ja, nun gut.«
»Man sollte sich immer in dem weiterbilden, was man beruflich macht, findest du nicht?«, fügte Judith hinzu, als meinte sie das tatsächlich ernst, worauf Tamy Babel ins Ohr flüsterte: »Deine Schwester ist ganz schön furchteinflößend«, aber ihre Worte klangen durchaus bewundernd.
»Du hast keine Ahnung.«
Maria legte ihren Töchtern nacheinander die Hand auf die Schulter. Nur für wenige Augenblicke und sie sagte kein Wort dabei, aber das brauchte sie auch nicht.
Sie hat eine komische Art, ihre Liebe zu zeigen.
Wie die Mutter so die Tochter, was?
Bevor Babel darüber nachdenken konnte, dass sie womöglich mehr wie ihre Mutter war, als sie je gedacht hatte, deutete sie auf Clarissas Haus, das gute fünfzig Meter entfernt stand und dessen Energien bis zu ihnen drangen.
»Ich nehme mir Clarissa vor«, sagte Babel und setzte sich in Bewegung. »Sorgt einfach dafür, dass mir die anderen nicht in die Quere kommen. Und wenn ihr seht, dass ich es nicht schaffe, verschwindet ihr von dort, okay?«
Judith nickte, aber weder Tom noch Sam gaben zu verstehen, dass sie sich an ihre Anweisungen halten würden. Sie hoffte nur, dass Maria die Situation irgendwie retten würde, immerhin hatte sie als älteste Hexe unter ihnen die größte Erfahrung mit solchen Sachen.
»Und seht zu, dass ihr am Leben bleibt.«
Im Laufen griff Tom nach ihrer Hand. »Muss ich mir Gedanken machen? Du weißt schon, wegen …«
»Du meinst, weil ich randvoll mit Magie bin?« Sie lachte bitter.
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