Baby-Bingo
Formulierung gehört wohl auch zum derbsten Bereich ihres Wortschatzes. Denn selbst im hitzigsten Streit argumentiert Carla so, als müsste sie sich gerade für den diplomatischen Dienst empfehlen. Eine Fähigkeit, für die ich sie immer bewundert habe. Im Gegensatz zu mir flippt sie nie aus. Selbst wenn sie innerlich extrem wütend ist und ich schon an der Decke kleben würde, bleibt sie sachlich und wird niemals verletzend. Sie wahrt ihr Gesicht, wie man das in Asien ausdrückt und sehr schätzt. Man kann Carla deshalb auch ideal in allen grenzwertigen Situationen nach vorn schicken. Wenn am Flughafen das Gepäck nicht kommt oder in der Autowerkstatt die Räder entgegen der Laufrichtung angeschraubt sind: Sie managt das perfekt, Carla hinterlässt keine verbrannte Erde.
Doch es gibt auch bei ihr eine Toleranzgrenze. Wenn diese durch Ungerechtigkeiten überschritten ist, reagiert sie radikal und unversöhnlich. Und ich habe soeben mit meiner blöden Bemerkung diese Grenze überschritten. Weit überschritten. Es macht deshalb keinen Sinn, jetzt mit ihr diskutieren zu wollen.
Um also nicht mein Gesicht zu verlieren, bleibt mir nichts anderes übrig, als ihrer unmissverständlichen Aufforderung zu folgen.
Verdammt, ich Idiot! Der Tag hätte so schön werden können, wenn ich mir diesen einen Satz verkniffen hätte. Auch in der engsten Partnerschaft sollte man nicht jeden der bis zu 60 000 Gedanken mitteilen, die täglich durch unsere Köpfe schießen.
Etwas konfus packe ich meine Reisetasche, da ich nicht weiß, wie lange mein Ausflug dauern wird. Schon einige Male war Carla richtig wütend auf mich. Einmal haben wir ganze zwei Tage lang nicht miteinander gesprochen. Aber rausgeworfen hat sie mich bisher noch nie. Mit einem demonstrativ lauten Knall lasse ich die Tür beim Gehen ins Schloss fallen. Als Hinweis darauf, dass ich Carlas Verhalten für überzogen halte. Rein rechtlich kann sie mich leider jederzeit vor die Tür setzen und dort sitzen lassen. Der Mietvertrag läuft auf sie. Wir wollten das schon einige Male ändern. Nun bereue ich, dass wir es dann doch nicht getan haben.
Die größte Wohnung aller meiner Freunde hat Stefan.
»Was hast du denn angestellt?«, fragt er verschlafen, als ich ihn anrufe. »Klar, kannst gern zu mir kommen und bleiben, solange du willst, kein Thema. Wenn dich nicht stört, dass Lea hier ist.«
»Lea?«
Meiner Meinung nach hieß seine Freundin Sarah oder so ähnlich.
»Frag nicht lange«, sagt Stefan. »Du wirst sie gleich kennenlernen.«
Also doch eine Neueroberung. Ich muss zugeben, in den weniger guten Momenten meiner festen Beziehungen habe ich Stefan insgeheim bewundert. Er ist der Beweis dafür, dass der Spruch »Irgendwann muss jeder erwachsen werden« völliger Blödsinn ist. Mit sichtlichem Spaß und Erfolg führt Stefan seit über zwei Jahrzehnten das Leben eines Berufsjugendlichen. Das beginnt bei der Kleidung, die immer eine Spur zu modisch für sein Alter ist. Es zeigt sich im Job, wo er als Filialleiter eines Coffee-Shops mit Lässigkeit Karriere gemacht hat. Und es reicht bis zu den wechselnden Partnerinnen, die er meist gleich akquiriert, wenn sie ihren Latte-to-go bei ihm holen.
Im Gegensatz zu mir kennt Stefan jeden neuen Klub der Stadt nicht nur aus der Zeitung, sondern auch von innen. Zwei, drei Tage in der Woche ist er immer noch im Nachtleben aktiv. Und an Sonntagen sollte man ihn nicht vor dem Tatort anrufen. Denn meist kommt er erst nach Hause, wenn Carla und ich bereits unsere Frühstückseier geköpft haben.
Wann war ich mit Carla eigentlich das letzte Mal in einem Klub? Es dürfte vor fast einem Jahr gewesen sein, als meine Freundin Kerstin anlässlich ihres 40. Geburtstags die Lizard Lounge gemietet hatte. Es war auch der Abend, an dem ich merkte, dass mein Tanzstil in den späten Achtzigerjahren stecken geblieben ist. Während sich Carla zu meinem Erstaunen trotz mangelnden Trainings so geschmeidig und lasziv bewegte wie die Mädels in einem Gangsta-Rap-Video, kam ich mir vor wie ein Altpolitiker, der auf dem Jugendparteitag den Disco-Abend eröffnet.
Nun gut, Leute mit über 40 gehören auch nicht mehr in einen Klub. Es sei denn, er gehört ihnen. Es gibt ein natürliches Terrain für jedes Alter. Und Nächte auf der Piste, die bis zum Morgen dauerten, hatte ich in meinem Leben genug. Scheinbar im Gegensatz zu Carla, die manchmal Andeutungen macht, dass sie es schon vermisst, mal wieder exzessiv feiern und tanzen zu gehen. Aber für uns
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