Babylon: Thriller
seine Großeltern, aus Samaria und hatten all das selbst erlebt? Die Möglichkeit, dass Nahum nach Assyrien deportiert und gezwungen worden war, dort als Schreiber zu arbeiten, wurde zunehmend wahrscheinlicher.
Ich wusste, dass assyrische Könige das erste wahre Weltreich errichtet hatten. Ehemalige Vasallenstaaten wie Juda wurden in Provinzen mit Gouverneuren umgewandelt, die von Assyrern ernannt wurden und ihrer direkten Kontrolle unterstanden. Staaten, die sich dagegen auflehnten, wurden niedergebrannt, geplündert, ihre Bewohner massenweise deportiert – die ersten ethnischen Säuberungen.
Zur Ehrenrettung Assyriens erzählte Samuel mir einmal: »Wichtig ist immer, wer historische Aufzeichnungen vornimmt. Unsere Vorstellung von den Assyrern und den Babyloniern stammte ursprünglich allein aus dem Alten Testament, und so lässt die Geschichte, die von ihren Feinden schriftlich fixiert wurde, sie in einem denkbar schlechten Licht erscheinen. Erst gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts, als die Übersetzung der Keilschrift-Tafeln vorgenommen wurde, begann sich das Bild zu wandeln.«
Samuel verehrte die Assyrer, erkannte jedoch an, dass einige ihrer Könige wahre Tyrannen gewesen waren. Sanherib zerstörte Babylon so gründlich, dass nur noch vereinzelte Schilfkrautwälder übrig blieben. Andererseits nutzte sein Sohn Asarhaddon seine Regierungszeit, um Babylon wieder aufzubauen und ihm zu seiner alten Pracht zu verhelfen. Assurbanipal war ein bedeutender Gelehrter, der die berühmte Tontafel-Bibliothek aufbaute, die in Ninive gefunden wurde, und das Überleben der persischen Elamiter sicherte, indem er ihnen Lebensmittel schickte. Aber er hatte auch eine dunkle Seite und delektierte sich an besonders brutalen Bestrafungen. Er ließ an den Lippen Kriegsgefangener mittels schwerer Eisenringe Ketten befestigen, mit denen sie zusammengebunden wurden. Ich konnte mich erinnern, in einem Bericht gelesen zu haben, wie er einmal unter einem Baum mit einer besonders grässlichen Frucht dinierte. Assurbanipal hatte einen Feind geköpft, ihn angespuckt und sein Gesicht zerfetzt und seinen Kopf dann auf einem Baumast aufgespießt.
Ich blätterte weiter in Samuels Aufzeichnungen und sah, dass in ihnen die Namen der Könige mehrerer obskurer Staaten auftauchten: König Aza von Mannai und König Mitã, Herrscher der Muschki. Aus welchem Grund interessierte er sich für diese kaum bekannten Herrscherpersönlichkeiten?
Ich hob eine kleine Kupfertafel hoch, die auf seinem Schreibtisch stand. Mein Bruder hatte einen assyrischen Fluch König Assurbanipals in die kleine Platte eingravieren lassen.
Wer immer die Inschrift entwendet oder seinen Namen neben den meinen daruntersetzt, den mögen Assur und Belit mit ihrem Zorn niederwerfen und strafen und seinen Namen und seine Nachkommenschaft im ganzen Land auslöschen.
Samuel meinte oft scherzhaft, dass dies wohl der erste überlieferte Copyright-Vermerk sei und moderne Verleger sich glücklich schätzen würden, wenn sie über die Macht eines assyrischen Königs verfügten. Während ich die Worte abermals las, entwickelte der Fluch eine seltsame Ausstrahlung und ich fragte mich, ob ein Teil der in den Worten ausgedrückten Macht sich über die Jahrhunderte erhalten hatte. Nahums Schrifttafel war tatsächlich »entwendet« worden. Zweimal sogar, wie ich erfahren hatte. Und Samuel und Hal hatten deswegen den Tod gefunden.
Samuels kleine Antiquitätensammlung enthielt nahezu ausschließlich gerettete Objekte, Antiquitäten, die er Händlern abgeschwatzt hatte, während sie ansonsten in Privatbesitz übergegangen wären. Sein beruflicher Werdegang war seinem Wunsch entsprungen, kulturgeschichtliche Zeugnisse zu erhalten und vor Geschäftemachern zu schützen. »Namen sind wichtig«, hatte er einmal gesagt, »sie bestimmen mit, wer und was wir sind. Als Kind habe ich mich brennend für meinen Namensvetter, den Propheten Samuel interessiert, der die Bundeslade gerettet hat. Damals entschied ich, dass ich mein Leben der Rettung antiker Artefakte widmen wollte, den Zeugen unser aller Geschichte.«
Ein lobenswertes Ziel, aber diesmal hatte er es zu weit getrieben. Und wer wusste schon, welche Auswirkungen seine Taten noch haben würden.
Ich fand Samuels Bibel und suchte das Buch Nahum. Ich hatte bisher nur selten in der Bibel gelesen und jedes Mal Schwierigkeiten mit ihrer antiquierten Sprache gehabt, doch ich musste feststellen, dass sich das Buch Nahum erstaunlich leicht lesen
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