Baccara Collection 186
unergründlichen Geheimnissen Indiens.”
„Ich war nie in Indien”, warf Mathis ein.
„Ich auch nicht”, erwiderte sie.
„Erzählen Sie weiter”, bat er und kam zu ihr.
„Jedes Jahr reisten meine Urgroßeltern zur heißesten Zeit mit Kindern und Dienern und manchmal auch zahlreichen Freunden in die kühlere Bergregion. Dann wohnten sie in einem riesigen Steinhaus, in dem große Bambusfächer von der Decke hingen. Kinder aus der Gegend bewegten diese Fächer für ein Taschengeld. Meine Urgroßeltern und ihre Freunde saßen jeden Nachmittag auf der schattigen Veranda, tranken Tee und sprachen über den Zustand des Empires. ,Diese Zeit wird nie wiederkehren, Desiree’, pflegte mein Urgroßvater zu mir zu sagen.”
„Der Colonel hatte Recht”, bestätigte Mathis.
„Ja, allerdings.” Desiree löste sich aus den Erinnerungen. „Als ich noch Kind war, erzählte er mir unzählige Geschichten. Es müssen Hunderte gewesen sein. Ich könnte sie gar nicht alle wiederholen. Eine ganz besondere Geschichte drehte sich darum, dass er eine Belohnung erhielt, weil er den Sohn eines Maharadschas rettete.”
Mathis horchte auf. „Was war das für eine Belohnung?”
Desiree lächelte. „Ich war tief beeindruckt. Stellen Sie sich vor, eines der Geschenke des Maharadschas war ein Elefant. Zu meinem größten Bedauern ließ mein Urgroßvater ihn in Indien zurück, als er das Land verließ und hierher kam.” Sie lachte unbefangen. „Damals wünschte ich mir selbst einen Elefanten.” Gleich darauf wurde sie ernst und erkundigte sich seufzend: „So kommen wir nicht weiter, nicht wahr?”
Doch so leicht gab Mathis nicht auf. „Ich weiß, dass Colonel Stratford schon seit zwanzig Jahren nicht mehr lebt, aber was ist denn mit seinen Papieren? Ich meine Aufzeichnungen, Briefe, andere persönliche Unterlagen.”
Sie deutete auf die Schubladen des Schreibtisches und auf die Bücherschränke. „Es ist noch alles vorhanden. In der letzten Zeit habe ich sie Abend für Abend stundenlang durchgesehen. Er hat alles aufgehoben.”
„War etwas Interessantes dabei?”
„Nur für Historiker, die sich besonders den Beziehungen zwischen England und Indien widmen. Mein Urgroßvater bewahrte alle Briefe, Tagebücher und so weiter auf. Man müsste eigens jemanden einstellen, der das alles durchsieht und archiviert.”
„Sind Dokumente nicht Ihre Spezialität?” Mathis warf einen Blick auf die Straße hinunter, als ein Krankenwagen mit heulender Sirene vorbeifuhr.
„Sicher, ich bin ausgebildet, historische Dokumente zu beurteilen, zu bearbeiten und zu erhalten”, bestätigte Desiree. Dies war eines ihrer Lieblingsthemen, für das sie sich sofort erwärmte. „Das Hauptproblem ist dabei das säurehaltige Papier, das Ende des neunzehnten Jahrhunderts eingeführt wurde. Viele historische Dokumente zerfallen buchstäblich vor unseren Augen. Unzählige unersetzliche Unterlagen werden schon in zehn Jahren nicht mehr verwertbar ein.”
„Und das liegt am Papier”, bemerkte Mathis.
Desiree nickte. „Es gibt Dokumente, die um 1100 hergestellt wurden und die sich in einwandfreiem Zustand befinden. Papier guter Qualität hält sich praktisch unbegrenzt. Leider wurde in Kriegszeiten aus der Not heraus oft billiges Papier mit hohem Säureanteil verwendet. Jetzt zerfrisst die Säure die Fasern. Dadurch zerfällt das Papier. Wichtig ist es, die Säure zu neutralisieren, ohne dabei die Tinte zu lösen oder die Bindemittel zu schädigen.”
„Es ist also ein Wettlauf mit der Zeit”, vermutete er.
„Wir arbeiten mit Hochdruck daran, die gefährdeten Dokumente auf Mikrofilm festzuhalten, aber vermutlich werden unzählige geschichtlich wertvolle Blätter vorher zerfallen”, erklärte sie mit der ganzen Leidenschaft, die sie für ihre Arbeit empfand.
Mathis hatte Desiree Stratford für kalt, herzlos und leidenschaftslos gehalten, aber er hatte sich offenbar getäuscht.
Diese Frau mochte äußerlich dem Bild einer kühlen, beherrschten, gut aussehenden und eleganten Blondine entsprechen, doch in ihr loderte ein geheimes Feuer.
Mathis ließ sie nicht aus den Augen. Er wollte mehr über diese Lady aus Boston herausfinden, als er sich hätte träumen lassen. Vielleicht irrte Beano sich, und manche Frauen waren doch den Ärger wert, den sie verursachten. Möglicherweise gab es für jeden Mann eine einzige Frau, eine ganz bestimmte Frau, die für ihn geschaffen war.
Noch während Mathis nachdachte, setzte jenes Gefühl ein, das er von
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