Baccara Collection 186
betrachtete er sie so durchdringend, als wollte er ihr auf den Grund des Herzens und womöglich auch der Seele blicken. „Und behielt er mit seiner Empfehlung Recht?”
Desiree lächelte versonnen. Ihr Urgroßvater hatte sie ermuntert, ihren Zielen zu folgen, und sie hatte bis heute schon viel erreicht, worauf sie stolz sein konnte. „Weitgehend ja.”
„Was gibt es sonst noch?”
„Mein Urgroßvater besaß ein unglaubliches Gedächtnis für alles, was er las. Oft zitierte er aus der Bibel, besonders aus dem Matthäus-Evangelium.”
„Erinnern Sie sich noch daran?” hakte Mathis nach.
„Glauben Sie denn ernsthaft, das könnte uns weiterhelfen?” fragte Desiree zweifelnd. Ihrer Meinung nach ging Mathis bereits entschieden zu weit. Diese Fragen hatten nichts mit der vorliegenden Bedrohung durch eine unbekannte Person zu tun.
„Ich habe keine Ahnung, was uns weiterhelfen könnte”, gestand er offen und ehrlich ein. „Deshalb stelle ich schließlich so viele Fragen und beschränke mich nicht auf einen einzigen Punkt.”
Sie trat an den Bücherschrank mit den verglasten Türen und holte behutsam die Bibel ihres Urgroßvaters heraus. Jules Christian Stratford hatte seine Lieblingsstellen mit bestickten Satinbändern markiert, die ihm seine Frau, Desirees Urgroßmutter, geschenkt hatte.
Desiree öffnete das Buch und las vor. „,Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben.’ Matthäus 19, 21.”
Sie blätterte zu einer anderen Stelle weiter.
„,Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz.’ Matthäus 6, 21. ,Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein!’ Matthäus 6, 23.” Sie blickte zu Mathis hoch. „Diesen Satz zitierte mein Urgroßvater sehr oft, als ich noch ein kleines Mädchen war. Er wusste, dass ich Angst vor der Dunkelheit hatte.”
„Heute noch immer?” erkundigte er sich und lächelte schwach.
„Was meinen Sie?” fragte sie, weil er sie mit diesem Lächeln erneut vom eigentlichen Thema ablenkte.
„Haben Sie noch immer Angst vor der Dunkelheit?”
„Nein, das habe ich zum Glück im Laufe der Zeit überwunden”, sagte sie und verbarg nicht, dass sie darauf stolz war.
„Haben Sie noch andere Ängste?”
Das wurde ihr entschieden zu persönlich. Anstatt die Frage zu beantworten, stellte sie selbst eine. „Jeder von uns hat vor irgendetwas Angst, oder etwa nicht?”
„Durchaus möglich”, erwiderte er ausweichend.
So leicht ließ sie ihn jedoch nicht vom Haken. „Wovor haben Sie Angst, Mathis?”
Er zögerte einen Moment mit seiner Antwort und wich dann aus. „Hier geht es nicht um mich, sondern um Sie.”
Desiree schloss die Bibel und stellte sie an ihren Platz im Bücherschrank zurück. Eigentlich überraschte es sie nicht, dass Mathis zwar andere Menschen aushorchte, über sich selbst jedoch nichts verriet. Das Gegenteil hätte sie überrascht. „Das Lieblingszitat meines Urgroßvaters steht ebenfalls im Evangelium des Matthäus.” Sie kannte die Stelle auswendig und musste sie nicht nachschlagen. „,Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, da sie die Motten und der Rost fressen und da die Diebe nachgraben und stehlen. Sammelt euch aber Schätze im Himmel.’”
Mathis ließ einige Sekunden verstreichen, in denen er offenbar über den Sinn des Satzes nachdachte. „Wissen Sie, warum er diese Stelle mochte?”
„Muss es dafür einen bestimmten Grund geben?” fragte sie erstaunt.
Er schüttelte den Kopf. „Nein, das nicht, aber es könnte einen geben.”
„Mir ist jedenfalls keiner bekannt”, erwiderte sie bedauernd. „Viele Menschen mögen diese Bibelstelle.”
Mathis dachte gar nicht daran, die Befragung schon zu beenden. „Fällt Ihnen noch etwas ein?”
„Nun, er erzählte mir oft Geschichten aus seiner Zeit in Indien. Damals habe ich sie sehr gern gehört. Heute als Erwachsene finde ich, dass sie ziemlich weit hergeholt waren. Sicher hat er übertrieben. Vielleicht sind auch einige seiner Geschichten erfunden und haben sich nie so zugetragen.”
„Erinnern Sie sich noch an diese Geschichten?”
Desiree stand auf und trat an die Fensterfront. Zwischen den Vorhängen fiel das Sonnenlicht herein. Sie schloss die Augen und genoss die Wärme auf dem Gesicht. „Er beschrieb oft Reisen mit der Eisenbahn - die unglaubliche Hitze, die Menschenmassen und die gewaltigen Entfernungen. Und er schwärmte von den
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