Baccara Collection 186
zu einem neuen Aufzug. Bei diesem Schneckentempo war die Milch bestimmt schon abgekühlt, bis sie ihr Schlafzimmer erreichte.
Sie nahm noch einen Schluck lauwarme Milch.
„Komm schon, mach endlich”, murmelte sie gereizt vor sich hin, als könnte sie den betagten Lift damit beschleunigen. Manchmal bewegte sich das elende Ding so langsam, dass sie gar nicht sicher war, ob es überhaupt vorankam.
Plötzlich meldete sich ihr sechster Sinn. Doch es dauerte noch einige Sekunden, bevor sie begriff, was los war.
Der Aufzug bewegte sich gar nicht.
Er war stehen geblieben. Die Zahlen über der Tür bewiesen, dass die Kabine zwischen dem zweiten und dem dritten Stock steckte.
Desiree drückte den Knopf für den dritten Stock. Nichts geschah. Sie probierte es wieder - vergeblich. Danach versuchte sie es der Reihe nach mit allen Knöpfen, doch der Aufzug rührte sich nicht von der Stelle.
Heute war eindeutig nicht ihr Glückstag. Zuerst war sie von dem Mann abgewiesen worden, in den sie sich möglicherweise verliebt hatte. Danach hatte sie nicht einschlafen können. Jetzt wurde die Milch, die ihr eigentlich helfen sollte, wieder kalt, und sie steckte in dem uralten Fahrstuhl fest.
Was bedeutete das im schlimmsten Fall? Sie musste einige Stunden Unbequemlichkeit auf sich nehmen, bis ein Frühaufsteher wie Beano Jones oder ihr stets pünktlicher Mr. Modi merkte, was geschehen war, und ihr aus der Klemme half.
„Jetzt kann wenigstens nichts mehr schief gehen”, stellte sie gereizt fest.
Kaum hatte sie die unvorsichtigen Worte ausgesprochen, als sie erkannte, dass sie das Schicksal besser nicht herausgefordert hätte.
Das Licht im Aufzug flackerte. Desiree atmete tief ein, hielt die Luft an und zählte bis zehn. Das Licht flackerte erneut, und als sie schon dachte, das Schlimmste überstanden zu haben und wieder frei atmen zu können, ging es endgültig aus. Im Aufzug wurde es dunkel.
„O nein”, stöhnte sie leise.
Es war pechschwarz. Desiree erkannte nicht einmal die Hand vor dem Gesicht. Sie tastete nach dem Knopf für den Notruf, doch nichts geschah, welchen Knopf sie auch drückte.
Es hatte keinen Sinn, in Panik zu geraten. Schließlich war sie kein Kind mehr, das sich vor der Dunkelheit fürchtete, sondern eine erwachsene Frau. Hier drinnen war es zwar etwas stickig, aber irgendwo würde bestimmt frische Luft eindringen, denn luftdicht war dieser alte Aufzug garantiert nicht.
Desiree hielt das Glas Milch weiterhin mutig fest, doch ihre Hand zitterte leicht.
Die Worte ihres Urgroßvaters fielen ihr ein. „Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein!”
Nein, in Desiree herrschte keine Finsternis. Daran gab es keinen Zweifel. Sie brauchte nur an Mathis zu denken, an den attraktiven, mutigen und erregenden Mathis, um Licht zu sehen.
Sie drückte wieder sämtliche Knöpfe, doch der Aufzug bewegte sich nicht. Das Licht ging nicht wieder an. Gar nichts geschah. Warum musste der Aufzug ausgerechnet um diese Uhrzeit den Geist aufgeben? Nun ja, es gab eben solche unseligen Zufälle.
Aber war es wirklich ein Zufall? Oder handelte es sich vielleicht um Sabotage? Hatte jemand absichtlich den Aufzug außer Betrieb gesetzt?
Der Aufzug war alt und schrecklich langsam, aber erst im letzten Monat hatten ihr die Techniker versichert, dass er sicher war und keine Gefahr für die Gäste des Stratford darstellte.
Sie atmete mehrmals tief durch, um sich zu beruhigen, und klammerte sich an den Gedanken, dass sie im Moment absolut in Sicherheit war. Sie hatte keine Angst. Dafür gab es auch nicht den geringsten Anlass.
Oder etwa doch?
Desiree trank die Milch aus und stellte das leere Glas auf den Boden. Natürlich hätte sie sich sicherer gefühlt, wenn Mathis bei ihr gewesen wäre.
Um sich zu trösten, sprach sie den Namen laut aus. „Mathis.”
Ob er wohl er in seinem Bett lag und schlief? Träumte er von ihr? Oder malte er sich aus, wie sie beide zusammen im Bett lagen? Wie sie sich eng umschlungen hielten, einander küssten, berührten, erregten und liebten?
Desiree rieb sich die Arme.
Ihr stand noch eine sehr, sehr lange Nacht bevor.
12. KAPITEL
Beim dritten Versuch fand Mathis die Geheimtür. Sie befand sich an der Rückseite einer ganz gewöhnlichen Besenkammer im dritten Stock des Hotels, gar nicht weit von den Wohnräumen der Familie entfernt.
Er öffnete den getarnten Eingang. Dahinter entdeckte er einen schmalen Korridor, der sich nach links und rechts so
Weitere Kostenlose Bücher