BACCARA EXKLUSIV Band 40
erneut über den zugefrorenen See schweifen ließ. „Meine Mutter hat mir oft Geschichten erzählt, die auch schon ihre Mutter und ihre Großmutter erzählt bekommen hatten.“
Ihr Schweigen ließ ihn fortfahren.
„Die meisten beruhten auf der Legende von Manabozho, dem großen Wundertäter der Chippewa. Meine Mutter sagte immer, er habe alle möglichen Tiergestalten annehmen können.“
„Das klingt ja ganz so, als habe sie an ihn geglaubt.“
„Ich nehme an, sie glaubte zumindest an den Mythos. An die Magie des Mythos. Ihre Lieblingsgeschichte war die vom Raub des Feuers.“
„Erzähl sie mir.“
Abel setzte sich zurecht, dann begann er langsam: „Vor langer Zeit, so berichtet die Legende, musste Manabozhos Familie genau an diesem Seeufer einen bitterkalten Winter ertragen. Der See war dick zugefroren, und die Sonne hatte ihre ganze Kraft verloren.“
Er hielt kurz inne, und Barbara ahnte, dass er in seinem Gedächtnis nicht nur nach den Einzelheiten der Geschichte suchte, sondern sich an eine Zeit erinnerte, an die er sehr lange nicht gedacht hatte.
„Als Manabozho seine Großmutter fragte, warum es so kalt sei, sagte sie ihm, dass die Menschen früher Feuer in ihren Wigwams hatten, ein Mann es jedoch gestohlen habe und es für sich allein behalten wolle. Daraufhin erklärte Manabozho seiner Großmutter, dass er diesen Mann finden und das Feuer zurückbringen wolle. Er verwandelte sich in einen Adler und flog über den See, bis er an einem entlegenen Ufer Rauch aus einem Wigwam steigen sah. Da verwandelte er sich in ein Kaninchen und hoppelte in den Wigwam, wo der alte Mann schlief, und da war es – das Feuer. Manabozho freute sich sehr, wusste jedoch nicht, wie er es nach Hause schaffen sollte. Und dann kam ihm eine Idee.“
„Nämlich?“, drängte Barbara, ganz fasziniert von der Legende und dem Klang von Abels Stimme.
„Er hielt sein Hinterteil in die Flammen, bis sein Stummelschwänzchen Feuer fing. Mit brennendem Fell hoppelte er so schnell er konnte nach Hause und schaffte es gerade noch bis zum Wigwam seiner Großmutter, ehe der letzte Funken erlosch. Seine Großmutter entfachte das Feuer, legte Reisig auf, und bis Manabozho sich in einen Jungen zurückverwandelt hatte, brannte ein schönes, warmes Feuer in ihrem Zelt.“
„Das sie mit allen teilten und das der Sonne ihre Wärme zurückgab“, vermutete sie und konnte sich gut vorstellen, wie Abel als kleiner Junge seine Mutter immer wieder angefleht hatte, ihm die Geschichte noch einmal zu erzählen.
„Das sie mit allen teilten und das der Sonne ihre Wärme zurückgab“, bestätigte er und ließ dabei den Blick über ihr Gesicht gleiten, ehe er sich wieder zum See drehte.
Barbara spürte die Zärtlichkeit in seinem Blick, als er sich längst abgewandt hatte. „Eine wunderschöne Geschichte.“
„Sie war eine bemerkenswerte Frau.“ Es war ihm anzuhören, dass er sich sehr lange nicht gestattet hatte, an seine Mutter zu denken.
Eine bemerkenswerte Frau, die Abel zu einem bemerkenswerten Mann erzogen hat, dachte Barbara. Weil sie plötzlich fröstelte, schlang sie die Arme um sich.
„Du frierst ja“, meinte er besorgt.
„Nur ein bisschen. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis sich mein Körper von der Hitze Kaliforniens auf die Kälte Minnesotas umgestellt hat.“
Ohne ein Wort zu verlieren, glitt Abel von seinem Pferd, trat neben ihres und schwang sich hinter ihr auf dessen Rücken. Schon hatte er seine dicke Jacke geöffnet und zog Barbara an seine Brust. Sobald er sie in die Jacke gehüllt hatte, nahm er ihr die Zügel aus der Hand und führte das Pferd zum Blockhaus zurück.
Bereitwillig kuschelte Barbara sich in seine Arme. Und dann gab sie sich, genau wie Abel, ganz der Stille hin, die nur vom gleichförmigen Knirschen des Schnees unter den Hufen der Pferde unterbrochen wurde. Der Mond lugte durch die Äste, die Sterne spielten zwischen den Zweigen Verstecken, und Barbara fragte sich, ob sie träume. Die Winternacht, der Mann hinter ihr und das, was sie gemeinsam erlebt hatten, erschien ihr plötzlich so wunderbar, als sei es Teil einer der Legenden um Manabozho.
Es war ihr unfassbar, dass sie erst vor knapp einer Woche um das Leben ihres Bruders gefürchtet hatte. Sie war es so müde gewesen, immer die Starke zu sein, diejenige, die alles richtete, die sich gegen Unrecht stellte, das sie nicht länger rechtfertigen konnte. Noch vor einer Woche war sie allein und zerschlagen gewesen. Jetzt hatte sie Mondschein
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