Back to Blood
ebenfalls an die Stirn.
»Wer jetzt?!«, sagte Nestor.
»Der Künstler «, sagte sie langsam und betont wie zu einem Unterbelichteten, der es einfach nicht kapiert. »Der mit dem Terpentin. Der arme Kerl, der nicht malen konnte.«
Nestor war so schockiert, dass es in seinen Ohren zischte. Er konnte dieses Geräusch nicht abstellen. Er war zu schockiert, um das überwältigende Schuldgefühl zu analysieren. Er schaute Lil an. Warum Lil und nicht Edith, konnte er auch nicht erklären. Er spürte nur, dass Edith zu klein und zu verbogen war, um vertrauenswürdig zu sein.
»Wann war das?«, fragte er Lil. »Was ist passiert?«
»Muss irgendwann letzte Nacht passiert sein. Der arme Kerl. Wann genau, weiß ich nicht. Keiner, mit dem ich gesprochen habe, weiß was. Nur dass er sich das Genick gebrochen hat — ist genau da auf dem Beton aufgeschlagen. Wenn man durch den Boden hier durchschauen könnte, genau unter Ihren Füßen, da liegt er.«
Nestor witterte den gleichen Drang, dem er selbst fast nachgegeben hätte, als er vorhin mit Magdalena gesprochen hatte, als er ihr unbedingt hatte erzählen wollen, was er über Koroljow wusste und sie nicht. Mitteilungsdrang. Der hatte jetzt auch Lil im Griff. Anscheinend hatte jemand kurz vor Tagesanbruch Igors Leiche am Fuß der Treppe gefunden. Er war kopfüber hinuntergestürzt. Jeder konnte sehen, dass er sich das Genick gebrochen hatte. Der verrenkte Körper lag auf den Stufen darüber. Die Leichenstarre hatte schon eingesetzt, als man ihn gefunden hatte. Er roch immer noch nach Alkohol. War nicht schwer, zwei und zwei zusammenzählen. Als Lil aufgestanden war, war die Polizei schon da gewesen … und die Mieter standen schon auf der Galerie, schnatternd, klappernd, deutend … ein regelrechtes Klapperkonzert aus Aluminium-Gehhilfen. Erst waren sie alle in den Innenhof geklappert, wo man die beste Sicht hatte. Die Leiche von Igor — oder »Nikolai«, wie Lil ihn nannte — lag am Fuß der Treppe, die vom ersten Stock hinunter in den Innenhof führte. Die Polizei breitete sofort eine Decke über die Leiche, rührte den verrenkten und zerschlagenen Körper aber nicht an. Warum trugen sie den armen Menschen nicht weg und legten ihn waagerecht auf den Boden, um ihm ein wenig von seiner Würde zu bewahren? Aber er lag einfach da, während die Polizisten nichts anderes taten, als diese gelben Absperrbänder zu spannen, die man aus dem Fernsehen kannte. Genau die gleichen. Sie sperrten die Treppe ab, damit niemand hoch- oder runtergehen konnte. Weil so viele Neugierige im Innenhof herumstanden, zogen sie dort einen ganzen Zaun aus dem gelben Band hoch, damit niemand der Leiche zu nahe kam. Dann scheuchten sie sie alle nach draußen und sperrten sämtliche Zugänge zum Innenhof ab.
»Da oben, sehen Sie das?«, fragte Lil. »Oben an der Treppe? … Das gelbe Absperrband? Und da hinten! «
Sie deutete an der Treppe vorbei. Jetzt sah Nestor zum ersten Mal das gelbe Band, das vor der Tür zu einem Apartment gespannt war … Igors Apartment. Zwei gelangweilte Polizis ten standen davor. »Schauen Sie hin!«, sagte Lil aufgeregt. »Schauen Sie genau hin! So was kriegen Sie hier sonst nie zu sehen. Das große Stück Klebeband, so breit « — etwa fünfzehn Zentimeter — »das sie über den Türgriff und das Schlüsselloch geklebt haben. Und was steht auf dem Stück Klebeband? Von hier kann man’s nicht lesen. Eine Warnung — dass man seine Finger davon lassen soll. Haben Sie so was schon mal gesehen? Schauen Sie es sich gut an. Ich war drin, bevor sie das draufgeklebt haben, da war die Tür noch offen. Jede Menge Cops wa ren in der Wohnung. Sah genau so aus wie neulich, als wir zu sammen drin waren, nur dass die ganzen Bilder weg waren.«
»Sie waren weg?! «, sagte Nestor. Er klang überraschter, als er hatte klingen wollen. »Sind Sie sicher?«
» Natürlich bin ich sicher. Die in einer Reihe an dieser langen Wand hingen. Die waren so schlecht, die wären mir aufgefallen. Vielleicht hat er sie weggeworfen. Wenn ich solche Bilder bei mir an der Wand hängen hätte, würde ich auch anfangen zu trinken … der arme Kerl«, fügte sie schnell hinzu, schließlich wollte sie nicht schlecht über einen Toten reden. »Sie sind weg …«, sagte Nestor mehr zu sich selbst als zu ihr. In diesem Augenblick drehte sich einer der Polizisten um, und Nestor hatte den Eindruck, als schaute er ihn direkt an. ¡Mierda! Vielleicht lag es daran, dass er so viel jünger war als alle anderen auf
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