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Bacons Finsternis: Roman (German Edition)

Bacons Finsternis: Roman (German Edition)

Titel: Bacons Finsternis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
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und hatte ihren Schwerpunkt in der Klassischen Moderne. Franz Marcs farbige Tiere wirkten im Widerschein des Feuers wie lebendige Wesen; Lichtfetzen huschten über die Flanke eines blauen Pferdes oder verfingen sich im Fell eines honiggelben Tigers. Eine dörfliche Landschaft von Kandinsky hing neben einer seiner ersten Improvisationen , als wäre mitten in Lady Catherines Wohnzimmer die Geburtsstunde der Abstraktion noch einmal nachgestellt worden. Unter einer Waldlandschaft eines mir unbekannten Künstlers war ein kleines Bild gegen die Wand gelehnt. Es war nicht viel größer als eine Postkarte. Ich hob es hoch und ging zu einem der Fenster, um Tageslicht darauf fallen zu lassen. Es war ein zartes und doch wildes Abbild einer weiblichen Figur, in lodernden Gelb-, Grün- und Rottönen; die junge Frau hielt die Augen geschlossen, ihre Wimpern krochen wie schwarze Raupen über ihre Wangen. In ihren Händen brannte ein Strauß Pfingstrosen. Das kleine Bild kam mir bekannt vor. Es erinnerte mich an ein Gemälde, das ich einmal in einem Katalog über den Blauen Reiter gesehen hatte. Oder in einem Band mit Werken der Brücke-Maler? Silben eines russisch klingenden Namens spukten mir durch den Kopf, aber sie wollten sich nicht zu einem Ganzen formen. Es war ein Fehler gewesen, Maia nicht mitzunehmen. Ich suchte den Bildrand nach Schriftzeichen ab, aber es war keine Signatur zu erkennen. Ich drehte das Bild um. Auch die Rückseite enthielt keinen Hinweis. Wo ich insgeheim gehofft hatte, ein Rechteck aus Kupfer vorzufinden, befand sich nur eine dünne, in den Rahmen gespannte Hartfaserplatte. Ob es sich dabei um den Bildträger handelte, konnte ich nicht erkennen. Vorsichtig stellte ich das Gemälde an seinen Platz zurück.
    Eine komplette Wand war den Surrealisten gewidmet. Zwischen zwei schwarzweißen Fotomontagen von Man Ray leuchtete eine Alptraumlandschaft von Yves Tanguy, in der eine hochgereckte, aus lebender und toter Materie zusammengebaute Gestalt einen geisterhaften Schatten über einen hellblauen Ozean warf, bis hin zum Horizont.
    Plötzlich fühlte ich einen Stich in der Brust. Als hätte mein Nervensystem schneller reagiert als meine Vernunft – so wie Bacon es immer postuliert hatte. Vor mir erstreckte sich eine Landschaft, die ich sehr gut kannte. Europa nach dem Regen von Max Ernst. Nie würde ich den Moment vergessen, als Isabel das Bild von der Wand genommen hatte.
    In diesem Moment kam Lady Catherine zurück in den Salon. Ich musste einen Schrei ausgestoßen haben, ohne es zu bemerken.
    »Alles in Ordnung?«
    »Ja«, sagte ich, »danke. Es ist nur – dieses Gemälde. Ich hatte früher einen Druck davon zu Hause. Ich dachte, das Original befände sich in den USA.«
    »Soweit ich weiß, hat er davon zwei Versionen gemalt«, sagte Lady Catherine. »Max Ernst war Leonhards Lieblingsmaler, bis er eines Tages persönlich ein Bild vorbeibrachte und hemmungslos mit mir flirtete. Er war ohne Scham, was das betraf. Und sehr verführerisch, obwohl er fast vierzig Jahre älter war als ich.« Sie lächelte. »Aber ich blieb natürlich standhaft.«
    »Natürlich«, sagte ich.
    Lady Catherine setzte sich auf das Sofa und wies mir meinen Platz auf dem Sessel zu.
    »Da Sie Europa nach dem Regen ja schon in Ihrem Besitz hatten«, sagte sie, »werden Sie ihn kaum ein zweites Mal erwerben wollen. Gibt es denn ein anderes Stück in meiner Sammlung, das Sie dazu verleiten könnte, eine Bank auszurauben?« Ich zögerte; ihr spöttischer Tonfall missfiel mir und schüchterte mich ein. Doch ihr Blick war freundlich und neugierig.
    »Das hier gefällt mir«, sagte ich und zeigte auf die Frau mit den Pfingstrosen.
    »Ach, das«, sagte Lady Catherine überrascht und hob eine Braue. »Seltsam, dass Sie es auch mögen. Es war eines von Leonhards Lieblingsbildern; er hatte eine Art Giftschrank, in dem er seine besonderen Heiligtümer versteckte. Nicht einmal ich durfte sie sehen. Es ist zu deinem Schutz , pflegte er zu sagen. Drang ich weiter in ihn, wurden seine Lippen schmal, und er schwieg. Anfangs machte ich ihm Szenen, doch mit den Jahren habe ich gelernt, es zu akzeptieren.«
    »Und Sie haben den Giftschrank erst nach seinem Tod geöffnet?«
    »So ist es. Er enthielt nur fünf Bilder. Ein Selbstporträt von Otto Dix war darunter. Eine mondbeschienene Landschaft von Paul Delvaux. Und dieses Mädchen mit der Pfingstrose. Leider konnte ich ihn nicht mehr fragen, was ihn daran so fasziniert hat. Ich kann es jedenfalls nicht

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