Bärenmädchen (German Edition)
Anatol hielt sie leicht am Arm fest. Mit gefesselten Händen wäre es sonst schwierig gewesen, das Gleichgewicht zu halten. Nach vier, fünf Schritten hatte sie anscheinend die richtige Höhe erreicht.
„Ganz prächtig“, hörte sie Anatol sagen, beziehungsweise „Ganz rächtig“. Eigentlich war es gar nicht so schwer, aber furchtbar anstrengend. Sie nahm ihre Knie automatisch etwas weniger hoch.
„Nicht nachlassen, Madame“, kam es da von Anatol. Plötzlich schnippte er mit einer kurzen Peitsche von unter her bei jedem Schritt an ihre Oberschenkel. Woher hatte er die Peitsche? Die war doch eben noch nicht da gewesen. Nun schleuderte sie ihre Beine wieder höher. Sie kam sich wie eine Can-Can-Tänzerin vor.
Das Laufband hatte vorne eine Digitalanzeige. Fünf Minuten schaffte sie, dann hatten sich ihre Oberschenkel in zentnerschwere Betonblöcke verwandelt. Nun war es aber gut. Sie schaltete wieder in einen schonenderen Laufstil, aber jetzt biss die Peitsche kräftiger zu. Das war nicht fair. Sie war doch ein wilder Mustang, der eigentlich nur auf Erkundungstour war. Zehn Minuten zeigte die Digitalanzeige an, bevor Anatol ein Einsehen hatte!
Als er das Laufband ausstellte, sank sie in sich zusammen wie eine beiseitegelegte Marionette. Anatol scheuchte sie allerdings schnell wieder hoch, als er merkte, dass sie auf ihrer Tätowierung saß. So stand sie keuchend, schwitzend, mit zitternden Knien neben dem Laufband. Und sie ärgerte sich über diesen vorwitzigen Alpha-Azubi. Sein Herr und Meister hatte schließlich angeordnet, dass sie sich nur die Anlage anschauen sollte. Sie beschloss, all ihren Mut zusammenzunehmen, ihre neue „Augenfreiheit“ zu nutzen und ihm einen wirklich anklagenden Blick zuzuwerfen. Da spürte sie seinen Handrücken auf ihrer Wange. Er streichelte sie. Erst die Wange, dann die Schultern, dann die Brüste. Mmmm, das tat gut. Wie zärtlich er war - natürlich nicht so wie Adrian, aber als kurzfristiger Streichelersatz durchaus brauchbar, befand sie.
Nur ihr flammender Zornesblick missriet darüber völlig. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass er viel eher schmachtend geriet als böse. Wenigstens las sie in seinen Augen, dass er sie gerne genommen hätte. Das gefiel ihr, auch wenn er es nicht wirklich tat. Vielleicht morgen oder übermorgen, wenn der Verband über ihrer Tätowierung abgenommen worden war. Stattdessen übergab er sie einer Zofe, die sie für die Nacht bereitmachen sollte.
Wie ihr Tag endete? Unter dem grauen Ding, das, wie sie hörte, Schlafkappe genannt wurde. Als die Klappen über Augen und Ohren verschlossen waren, versank sie in vollkommene Stille und Dunkelheit. Das war tatsächlich unheimlich. Man hatte sie taub und blind gemacht, von allem, was um sie herum vorging, abgeschnitten. Allenfalls ein schwacher Luftzug auf der Haut kündete an, wenn sich die Tür der Kammer öffnete. Einzig an einer Berührung konnte sie spüren, ob jemand bei ihr war. Sie lag zugedeckt auf dem Bauch in ihrem Bett. Hände und Füße waren so gefesselt, dass sie sich nicht umdrehen konnte. So sollte wohl verhindert werden, dass sie sich des Nachts auf die frische Tätowierung legte. Erschöpft wie sie war, schlief sie trotzdem fast sofort ein, versank in einem wirbelnden Reigen aus Traumbildern, in denen Tätowiermaschinen surrten, Beine im Stutentrab hochgerissen wurden und sie nach einer Schere griff, die immer ein wenig außerhalb ihrer Reichweite lag.
Später konnte sie sich nur noch schemenhaft an diesen Tag erinnern und an die folgenden ebenso. Wie eine Landschaft, die von einem fahrenden Zug aus betrachtet wurde, flossen die Ereignisse ineinander und rauschten an ihrem Verstand vorbei. Sie war erstmals vor einen Sulky gespannt worden. Sie hatte die Geschwindigkeitskommandos gelernt. „Go“ bedeutete langsamer Trab. „Go, Go“ mittelschnelles Tempo und ein dreifache Go trieb sie zur Höchstgeschwindigkeit an.
Sie hatte sich an die demütigende Prozedur auf den Aborten gewöhnt. Es waren nur Löcher im Boden! Sie hatte gelernt, dass sie als Stute in der Stehposition immer auf den Fußballen zu balancieren hatte, und sie hatte sich, soweit es möglich war, mit den anderen Mädchen angefreundet. Auch Florence hatte sie wiedergesehen und sich sehr darüber gefreut. Neben Ines und Miriam war sie das Mädchen, das ihr am meisten im Schloss bedeutete. Sie wusste ja, dass sie auch in die Spezialausbildung geschickt worden war, aber am ersten Tag hatte sie sie nicht entdecken
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