Bärenmädchen (German Edition)
vorne zum Hof hin. Als sie näher kam, sah sie, dass auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes die gleichen Schiebetüren angebracht waren. Sie führten anscheinend auf einen weiteren großen Platz hinaus.
Hier wurden die Stuten an- und abgeschirrt. Einige standen auch angekettet an der Wand. Anscheinend warteten sie darauf, ebenfalls trainiert zu werden. Eine trug eine enganliegende graue Kappe. Sie bedeckte den ganzen Kopf. Augen und Ohren waren durch dicke gepolsterte Klappen verschlossen. Ob es eine Strafmaßnahme war? Anne fand den Anblick sehr unheimlich. Sie ging davon aus, dass es eine weitere Erfindung Attila von Ungruhes war.
Geradezu gebannt war sie dagegen von einem monumentalen Spiegel. Wenn man vom Hof aus hereinkam, erstreckte er sich über die ganze obere Hälfte der linken Wand. Anscheinend diente er Rockenbach und Anatol dazu, mit einem Blick gleich von zwei Seiten kontrollieren zu können, ob die Geschirre korrekt verschnallt waren. Anne konnte es nicht lassen, sich vor dem Spiegel hin und her zu wenden, um mit grausiger Faszination ihre neue Erscheinung zu betrachten. Durch die Cremeschichte auf ihrer Tätowierung schimmerten smaragdgrüne und schwarze Schnörkel und Bögen hindurch. Über dem S befand sich anscheinend das Ortega-O. Sie versuchte sich einzureden, dass die Tätowierungen doch gar nicht so auffällig wären. Aber wie sie sich vor dem Spiegel auch drehte, ihre ganze Rückfront wurde von ihnen dominiert. Natürlich wusste sie, dass man Tätowierungen auch entfernen konnte. Aber der Gedanke daran kam ihr hier im Schloss abstrakt und abwegig vor. Sie war dauerhaft markiert. Sie war eine Stute. Sie war verkauft. Plötzlich überfiel sie darüber ein Lustgefühl, das so scharf und peinigend war, dass es fast an Schmerz grenzte.
So war sie fast dankbar, als Anatol sie vor dem Spiegel wegscheuchte und sie daran erinnerte, dass sie nicht ewig auf einer Stelle verweilen dürfe. Sie solle sich auch einmal außerhalb der „Spiegelhalle“ umsehen, erklärte er.
Eilig ging sie weiter und trat durch die zweite Schiebtür auf den fast fußballfeldgroßen Platz hinter dem Gebäude. Anscheinend wurde hier mit den Kutschen geübt. Anne sah verschiedene Hindernisse: eng zusammenstehende Pfosten, eine künstliche Holzbrücke und einen Wall, den man anscheinend hinauf- und hinabfahren konnte.
Da der Platz nicht genutzt wurde, wandte sie sich um und trottete zurück in die Halle mit dem Spiegel. Dort ging sie durch eine offenstehende Tür auf der rechten Seite und kam in einen langen Korridor. Links lagen anscheinend die Schlafkammern der Mädchen. Boxen hatte Rockenbach sie genannt. Zwei Betten standen in jedem Raum. Das gefiel ihr. Wie schön, wenn sie wirklich mit Ines zusammen sein dürfte. Bedrohlich fand sie die langen Lederriemen, die an den Bettgestellen befestigt waren. Außerdem lag auf fast jeder Matratze eine der unheimlichen grauen Kappen.
In der letzten Box stand auf der Fensterbank ein leeres Wasserglas und da wurde ihr bewusst, wie durstig sie war. Sie machte sich schnell davon und wurde im Nebengebäude fündig. In einem Raum, in dem diverse Fitnessgeräte – darunter zwei Laufbänder – untergebracht waren, entdeckte sie eine Kiste mit Mineralwasser. Anatol ließ im selben Raum gerade eines der Mädchen Hanteln stemmen. Anne schlurrte so lange um die Getränkekiste herum, bis Rockenbachs Helfer verstand. Er flößte ihr das Wasser direkt aus der Flasche ein. Das Gebiss ließ er in ihrem Mund. Es wäre eine gute Übung, sich daran noch besser zu gewöhnen, erklärte er.
Der Scherzkeks! Die Hälfte des Wassers lief ihr natürlich aus dem Mund heraus. Einmal verschluckte sie sich so sehr, dass sie heftig husten musste. Anatol ließ das Mineralwasser daraufhin nur noch mit langen Pausen in ihren Mund laufen. Am Ende war eine ganze Flasche leer, bis ihr Durst gestillt war. Um sich zu bedanken, versuchte sie es wieder mit einem leisen, sanften Wiehern. Zaghaft wagte sie auch einen Blick in seine Augen. Er grinste und zeigte einladend auf das Laufband, neben dem er stand.
„Madame möchten den Stutentrab probieren?“ Sein moldurischer Akzent ließ ihn das P verschlucken, so dass er robieren sagte. Hörte sich eigentlich ganz niedlich an, fand sie, aber es war klar, dass er sie nicht wirklich gefragt hatte. Er hatte einen Befehl erteilt. Sie trat vorsichtig auf das Laufband. Anatol stellte es an und sie joggte los. Mit jedem Schritt versuchte sie, ihre Knie höher zu nehmen.
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