Bärenmädchen (German Edition)
können. Vielleicht war sie die Stute unter der grauen Kappe in der Werkhalle gewesen. Als sie Flo dann am zweiten Tag sah und sich bemerkbar machte, begrüßte das Mädchen sie mit der gleichen Wiedersehensfreude, wie es auch Ines getan hatte. Anne war sofort wieder hingerissen von ihr. Sie schien die einzige zu sein, deren Schönheit nicht von ihrem kahlen Schädel beeinträchtigt wurde. Vor dem Sulky bewegte sie sich mit einer Eleganz und Leichtigkeit, die Anne sich sofort als Vorbild nahm. Wenn sie schon eine Stute sein musste, dann wollte sie genauso vor dem Sulky einher tänzeln.
Aus irgendeinem Grund teilte nicht Ines ihre Schlafkammer, sondern Flo. Leider war das eine genauso bedeutungslos wie das andere. Die Nächte verbrachten sie unter der Schlafkappe. Dazu waren sie fast bis zur Bewegungslosigkeit gefesselt. Ab der dritten Nacht lag auch Anne auf dem Rücken. Füße, Hände und Oberkörper waren durch Riemen gebunden. Adrian hätte im Bett neben ihr liegen können, und sie hätte es nicht einmal bemerkt.
So nutzte sie tagsüber jede Gelegenheit, mit Florence, aber auch mit Ines in Kontakt zu treten. Sie tauschten, wenn möglich, liebevolle Berührungen aus und sie nutzten die Stutensprache, um sich so gut es irgend ging ihre Stimmungen und Gefühle mitzuteilen.
Jeden Tag kam Attila von Ungruhe vom Schloss herunter und programmierte eine weitere Lautäußerung in Annes Halsband. Sie durfte wiehern, schnauben, brummeln und einige andere Töne ausstoßen, die man für eine Stute passend hielt. Anfangs hatte sie vermutet, dass sie die aufgezwungene Pferdesprache nur als Demütigung und Qual empfinden würde. Aber es war nicht so. Sie war dankbar über jede Lautäußerung, die ihr zugestanden wurde. Alles erschien ihr besser als das erzwungene Schweigen. Fleißig und bei jeder Gelegenheit probierte sie die neuen Töne aus. Einmal brummelte sie solange vor sich hin, bis Anatol, der sie gerade vor dem Sulky anschirrte, ihr schließlich genervt seine Peitsche zwischen die Zähne schob, um sie zum Schweigen zu bringen. Er wies sie an, sie im Mund zu halten, und drohte ihr allerschwerste Strafe an, sollte sie herunterfallen.
Sichtlich zufrieden darüber, endlich für Stille gesorgt zu haben, schaute er sie an und seine Miene wandelte sich umgehend in tiefste Bestürzung. Anne war in Tränen ausgebrochen und schluchzte haltlos. Damals vor dem Schloss hatte Adrian das gleiche getan. Er hatte ihr seinen Schreibstift zwischen die Lippen geschoben, der grausame Räuberhauptmann der, und dann hatte er seine Hände nicht von ihr lassen können. Er hatte sie gestreichelt und mit ihren dichten, braunen Haaren gespielt. Sie spürte jetzt noch seine Finger auf ihrer Haut, aber nun war sie kahlköpfig und alleine. Sie hasste ihren wild wuchernden Bewuchs an Achsel und Scham. Sie war verkauft und in einer entsetzlichen Lage. Adrian fehlte ihr so sehr. Sie war der traurigste Mensch der Welt.
Anatol nahm ihr die Peitsche wieder aus dem Mund.
„Madame, nicht traurig sein. Dürfen ´lappern so viel sie wollen.“, erklärte er besorgt. Anne musste etwas lächeln. Seit sie eine Stute war, flossen ihre Tränen ebenso leicht, wie sie auch wieder versiegten. Mit Freude und Zorn war es ähnlich. Manchmal schien es ihr, als würde sie nur noch aus Gefühlen bestehen. Sie spürte, dass jeder Tag in der Anlage sie stärker verwandelte. Nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich wurde sie zu jenem bizarren Wesen, dass sich wie ein Pferd benahm, dass sich nackt vor eine Kutsche spannen ließ und dass so vollständig unterworfen war, wie sie es niemals für möglich gehalten hätte.
Manchmal fühlte sie sich, als wäre sie in einen Fluss gestürzt. Eine kräftige Strömung riss sie mit fort, aber sie ließ sich gleichzeitig auch treiben und versuchte nicht wirklich, das rettende Ufer zu erreichen. Sie wartete auf den kräftigen Arm, der sie da herausfischen würde. Adrian aber ließ sich nicht blicken und stellte ihre Geduld auf eine Probe, die ihr manchmal als die grausamste Foltermethode von allen hier im Schloss vorkam.
Statt Adrian kamen immer mehr andere Besucher zur Stallanlage. Rockenbach führte sie dann herum. Er zeigte ihnen die Gebäude, den Parcoursplatz, die verschiedenen Kutschen und demonstrierte die Ausbildung der Stuten. Anfangs waren ihm die neugierigen Alphas eher lästig. Schweigsam und mit verdrossener Miene schleuste er sie durch die Anlage. Mehr und mehr fand er aber offensichtlich Gefallen an den
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