Bärenmädchen (German Edition)
wieder aus“, flötete sie. „Ihr Diabolo hat mir ein wenig Gesellschaft geleistet. Er ist ja so ein lieber Hund. Wie sie sehen, habe ich unsere Täubchen schon abmarschfertig aufgestellt. Ist ein richtig lahmer Haufen diesmal. Die haben es nötig, hart angepackt zu werden. Aber da stehen die ja drauf. Sonst hätten die feinen Damen sich hier jetzt nicht so brav versammelt.“
„Das haben sie gut gesagt, Frau Schröter. Werd‘ die Fräuleins schon nach oben scheuchen“, lautete die Antwort. Der Reiter hob seine rechte Hand, in der er auch die Peitsche hielt, zu einem lässigen Abschiedsgruß. „Ab“, kommandierte er dann scharf. Fast gleichzeitig sprang der Hund kläffend auf und näherte sich ihnen mit drohend gesenktem Kopf. Den Mädchen wurde klar, dass sie soeben die „höfliche“ Aufforderung zum Aufbruch erhalten hatten. Eilig setzten sie sich in Bewegung.
Sie überquerten den Hof. Dann führte die Straße in den Wald. Wie hatte Rockenbach ihn genannt? Räuberwald. Anne schien es, als ob die Bäume sie regelrecht verschlucken würden. Das Blätterdach über ihnen war so dicht, dass es kaum einmal den Himmel sehen ließ. Links und rechts türmten sich umgestürzte Bäume in allen Stadien des Verfalls. In den Niederungen hielten sich immer noch Nebelschwaden. Anne schauderte bei dem Gedanken, dass plötzlich ein Bär daraus hervorbrechen könnte.
Die Straße wand sich wie ein Fremdkörper durch diesen Urwald, und ihr wurde immer beklommener zumute. Jeder Schritt, den sie taten, führte sie weiter aus dem normalen Leben heraus, führte hinein in eine dunkle Welt, die sie sich nicht einmal ansatzweise vorstellen konnte.
Bald zeigte sich allerdings, dass der Weg nicht so verlassen war, wie es anfangs schien. Hin und wieder wurden sie an den Straßenrand geschickt. Dann glitten schwere Limousinen und Geländewagen vorbei, manchmal auch Vans und große Transporter. Anne fragte sich, warum man sie nicht einfach in eines dieser Fahrzeuge verfrachtet hatte, um sie zum Schloss zu bringen. Dann wurde ihr klar, dass schon der mühsame, demütigende Marsch dazu diente, sie gefügig zu machen. So wurde ihnen von Anfang an deutlich, welche Rolle sie von nun an spielen würden.
Da man ihnen auch die Uhren abgenommen hatte, verlor Anne bald jedes Zeitgefühl. Sie konzentrierte sich darauf, möglichst gleichmäßig und kräfteschonend zu gehen. Wenigstens hatte Rockenbach erlaubt, dass sie sich nicht mehr bei den Händen halten mussten. Das Marschieren wurde dadurch leichter. Dafür führte der Weg jetzt immer stärker bergan. Bald keuchten und schnauften fast alle Mädchen. Annes Oberschenkel begannen bei jedem Schritt zu schmerzen, ebenso ihre Füße, obwohl sie mit dem Trainingsanzug auch recht bequeme Turnschuhe erhalten hatte.
Besonders Ines tat sich schwer. Immer öfter geriet sie ins Stolpern oder blieb zurück. Dann näherte sich der schwarze Hund und startete wütende Scheinangriffe auf ihre Beine. Schrecklicher noch als sein Kläffen war dabei das Geräusch seiner Kiefer, wenn sie drohend ins Leere schnappten. Panisch legte Ines dann wieder an Tempo zu und hielt schnaufend für eine Weile ihren Platz neben Anne.
So jämmerlich war ihr Zustand bald, dass Anne wieder ihre Hand ergriff, um sie mit sich zu ziehen. Vor allem, weil die Straße zusehends schlechter wurde. Sie bewegten sich nicht mehr auf Asphalt, sondern auf einem holprigen Feldweg. Auf der linken Seite, dort wo Ines marschierte, ging es zudem eine steil abfallende Böschung hinunter. Anne lotste Ines möglichst weit weg von dieser gefährlichen Kante.
Dann passierte das Unglück doch. Ines stolperte und stürzte. Ihre Hand entglitt Annes Griff. Gleichzeitig sprang der Hund auf Ines zu. Wieder das schreckliche Geräusch der zuklappenden Kiefer. Panisch rappelte sich das mollige Mädchen hoch, kam aber viel zu weit nach links. Für einen kurzen Augenblick schaute Ines unendlich überrascht, als sie merkte, dass sie einen Schritt in Leere getan hatte. Sie stieß einen leisen Schrei aus. Dann verschlang sie der Abgrund und Anne hörte das Knirschen brechender Äste und Sträucher.
Als sie hinunter sah, kam Ines etwa 30 Meter tiefer gerade zum Liegen. Der Abhang fiel glücklicherweise nicht so steil ab, wie sie vermutet hatte. Ines war wahrscheinlich mehr geschliddert als im freien Fall hinuntergestürzt. Das war gut. Weniger gut war, was sie dann sah. Von links aus einem dichten Gestrüpp heraus näherte sich etwas großes Braunes dem Mädchen.
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