Bärenmädchen (German Edition)
Rede gestellt. Sie musste ihnen dann erklären, warum man sie derart gekennzeichnet hatte. Anne hatte das Gefühl, dass ihr Glöckchen die Männer sehr erregte. Am liebsten hätten sie sich auf der Stelle über sie hergemacht. Da sie noch tabu war, musste dafür oft ihre Zofen-Begleiterin herhalten. Eine hatte, nachdem sie Anne zum Arbeiten in die Wäscherei geführt hatte, gleich vier neue Striche auf ihrer Hinterbacke.
Aber auch wenn das Glöckchen still blieb, weil Anne sich nicht bewegte, ruhte das Teufelchen nicht. Es vergnügte sich anderweitig. Der untere Rand des Glöckchens kam auf ihrer Oberlippe zu liegen. Das war bei Anne eine besonders empfindliche Stelle. Irritiert über die neue ungewohnte Berührung, verzog sie daher immer wieder unwillkürlich ihre Oberlippe, und schürzte sie nach oben. Als die pausbäckige Krankenschwester zwei Tage nach ihrer Beringung kontrollierte, ob es keine Entzündungen oder übermäßigen Schwellungen an der Nasenscheidewand gab, bemerkte sie dies und wies die Krähe darauf hin. Nun habe sich der Zögling leider doch eine Unart angewöhnt, erklärte sie.
Die Krähe aber antwortete: „Da irrst du dich aber gewaltig, Maximiliane. Wenn Glöckchen ihren Mund verzieht, sieht sie nämlich jedes Mal so aus, als könne sie es gar nicht erwarten, einen richtig prallen Schwanz hineingesteckt zu bekommen. Ihr kleiner Tick wird unseren männlichen Alphas so sehr gefallen, dass sie binnen kürzester Zeit alle ihre Zepter schmecken wird.“
„Da könntest du wirklich recht haben“, erwiderte die pausbäckige Krankenschwester nachdenklich und schürzte unwillkürlich selbst ihre Oberlippe. Anne aber versuchte danach verbissen, sich das Lippenzucken abzugewöhnen. Mit mäßigem Erfolg, wie sie bald erkennen musste.
Wenigstens in einer Sache aber blieb das Teufelchen erfolglos. Gekennzeichnet und herausgehoben wie sie jetzt war, hatte Anne anfangs das bittere Gefühl, noch weniger zu gelten als die anderen Mädchen. Sie fürchtete sehr, dass ihre Mitzöglinge ebenso empfanden und sie dies auch spüren lassen würden. So war sie froh, als die Mädchen ihr fast ausschließlich tröstend und liebevoll begegneten. Dascha verhielt sich reserviert, ließ sich aber zu keiner Gehässigkeit hinreißen. Anne selbst begegnete der Neunzehnjährigen von nun an aber zurückhaltend und mit einem gewissen Misstrauen.
Allein Beatrice, die Arzthelferin mit dem Puppengesicht, fiel aus der Reihe. Als sie und Anne den Boden eines endlos langen Korridors wischen mussten, und schon sehr müde waren, fuhr sie Anne plötzlich an: „Dein ewiges Bim-Bim nervt total. Lass deinen Kopf doch nicht immer so wackeln“
Anne sah sie zornbebend an und zischte: Wenn sie so etwas noch einmal sagte, würde sie ihr das hübsche Puppengesicht derart demolieren, dass sie dann wie Chucky, die Mörderpuppe, aussehen würde.
Sie musste dabei mehr wie ein beringter wutschnaubender Bulle denn wie ein armes Sklavenmädchen gewirkt haben. Beatrice jedenfalls blickte sie, zu ihrer Genugtuung, so ängstlich an, als wäre sie die Krähe höchstpersönlich. Danach kam nie wieder Ähnliches über ihre Lippen.
Für die anderen Mädchen war ihr neuer Nasenbären-Look, wie sie es selbst nannte, anscheinend viel schneller normal als für sie selbst. Dass sie von ihnen umgehend „Glöckchen“ genannt wurde, nahm Anne ergeben hin. Nur Ines blieb anfangs tapfer bei ihrem richtigen Namen, bis Anne selbst ihr sagte, sie solle lieber keine Strafe riskieren. Sie heiße von nun an eben „Glöckchen“. Es tat ihr aber wohl, zu bemerken, wie zögernd und widerstrebend Ines trotzdem den neuen Namen verwendete.
Über Rockenbachs Worte an sie nach Annes Beringung wollte Ines nicht reden. Weil sie in dieser Sache so beharrlich schwieg, fragte Anne auch nicht weiter nach. Ihre Beziehung war längst nicht mehr so einseitig wie am Anfang. Anne hatte immer noch das Gefühl, Ines nach Kräften beschützen zu müssen, und sie tat es, wo ihr das möglich war. Gleichzeitig gab Ines aber auch Anne Halt und Trost, und das war gut in einer Welt, in der absolut nichts mehr galt, was bis vor kurzem noch selbstverständlich war.
Ines war auch in Annes zweite Begegnung mit dem Räuberhauptmann verwickelt. Daran, dass sie genauso gewalttätig verlief wie die erste, trug sie keine Schuld. Es geschah am fünften Tag ihrer Ausbildung. Die Mädchen versuchten sich, so gut es ging, in ihrem neuen Dasein einzurichten, und sie begannen, ihre Grenzen auszutesten.
Weitere Kostenlose Bücher