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Bärenmädchen (German Edition)

Bärenmädchen (German Edition)

Titel: Bärenmädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Berlin
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ihre bloßen Brüste wärmten
    Dieses Bild war nicht schön und nicht erregend. Es war Folter. Annes Blick glitt nach rechts unten, weil sie dort eine Beschriftung entdeckt hatte. Minou 1947 stand dort in weißer Farbe, offensichtlich per Hand geschrieben. Anne schaute jetzt noch einmal auf das erste Foto. Dort stand Minou 1943.
    So war es also Sieversens „besonderen“ Frauen namens Minou ergangen. Sie waren Teil einer düsteren Vergangenheit. Wie aus weiter Ferne hörte sie ihn da aus dem Wohnzimmer rufen: „Vite, Vite, Glöckchen, willst du mich verdursten lassen?“
    Es war die Stimme des Folterers, und doch war sie froh, weggerufen zu werden. Das Wasser im Glas schwappte bedenklich, aber sie eilte, so schnell es ihre Stöckelschuhe zuließen, fort von diesen Bildern. Sie reichte Sieversen das Getränk, sah Miriam im Esszimmer bereits den Tisch für das Mittagessen decken und begann selbst, als wäre nichts geschehen, schwungvoll Staub zu wischen. Um Platz für ihren Staubwedel zu bekommen, stellte sie die Obstschale auf der Anrichte beiseite. Aber, oh là là, da war ihr doch eine Mandarine heruntergefallen und sogar unterm Sofa verschwunden. Wie sie sich recken und strecken und den Po weit nach hinten drücken musste, um an das kleine Ding heranzukommen.
    „Recapitule“, hörte sie ihn sagen, und sie freute sich darüber. Es sind uralte Bilder, überlegte sie gleichzeitig, und der Sieversen von heute war ein harmloser alter Herr, der ihnen eine unbeschwerte Pause vom Leben im Schloss ermöglichte. Minou 2012 war Anne, die unter altmodischen Möbeln herumkreuchte. Alles andere war längst vergangen und man sollte es dort lassen, wo es hingehörte, nämlich in vergilbte Schwarz-Weiß-Fotografien. Also bitteschön, dachte sie, als sie mit funkelnden Augen unter dem Sofa wieder auftauchte: Wo war jetzt ein Gegenstand, der ihr ähnlich wirkungsvoll wie die Mandarine davonkullern konnte?
    Nachdem sie auf diese Art „geputzt“ hatten, nahmen sie gemeinsam mit Sieversen das Mittagessen ein. Es stand im Esszimmer in Warmhalteboxen für die drei bereit und es war stets ein unvergleichliches Festmahl. Bei Sieversen gab es keine schmale Magerkost, wie sie sonst auf ihrem Speiseplan im Schloss stand. An ihrem ersten Tag schon hatten sie mit leuchtenden Augen auf einen saftigen Braten nebst Knödeln und Rotkohl gesehen, als sie die Deckel der Warmhalteschalen anhoben. Diese deftige Hausmannskost wäre daheim nicht unbedingt nach Annes Geschmack gewesen. Ausgehungert, wie sie hier war, sah die Sache aber ganz anders aus. Nicht wie Kätzchen, sondern wie Tiger hatten sich Anne und Miriam darauf gestürzt und es, zur Freude von Sieversen, restlos vertilgt. Diesmal erwarteten sie ein großes Steak, Bohnen und wunderbar krossgebratene Bratkartoffeln. Zum Nachtisch gab es Vanilleeis mit heißer Fruchtsoße.
    Während des Essens bat Sieversen sie immer, von ihrer Ausbildung und dem Leben im Schloss zu erzählen. Beim ersten Besuch mochten sie anfangs nicht recht mit der Sprache heraus und scheuten sich, einem Alpha ihre Gefühle und Ansichten zu offenbaren. Da erklärte Sieversen, dass alles, was sie sagten, hier in diesem Raum bleiben würde. Immer noch waren sie skeptisch und da kam zum ersten Mal eine gewisse Schärfe in seine Stimme. Sieversen erklärte schmallippig, dass er ihnen das Wort eines deutschen Offiziers gegeben habe und dass sie ihn in seiner Ehre verletzen würden, wenn sie ihm nicht trauten. Ob sie das wirklich wollten?
    Das klang nicht nur streng, sondern es war so altmodisch, dass sowohl Anne als auch Miriam es geradezu hinreißend fanden. Sekunden später redeten sie munter drauflos. Sie stöhnten über Attila von Ungruhes Zofenkunde und seinen Intelligenten Body. Sie ließen sich über die drei Engelsgesichter aus, und berichteten schaudernd, was dem armen Blau widerfahren war, den sie immer noch nicht wiedergesehen hatten. Ja, sie lästerten sogar über Dascha, ihre „Germanys-Next-Top-Zofe“, und wie sie sich überall einzuschleimen verstand. Als die Sprache dann allerdings auf Annes Bestrafung durch den Räuberhauptmann kam, und Sieversen merkte, wie unangenehm ihr das Thema war, wechselte er elegant das Thema, und Anne war ihm dankbar dafür. Sieversen erzählte stattdessen vom Schloss und den beiden Zonen, die es umgaben. Er erklärte ihnen, warum der Weg vom Verwaltungsgebäude zum Schloss streckenweise so schlecht war und mit welchen aufwendigen Sicherheitsmaßnahmen die Anlage außerdem

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