Bärenmädchen (German Edition)
verschwand, blickte Anne neugierig auf ihre Mahlzeit. Das Fleisch sah knusprig aus und lecker. So wie dem Bären müsste es allen ihren Feinden ergehen, dachte sie. Obwohl die Vorstellung, Dascha zu verspeisen, ziemlich eklig war. Da hielt sie sich doch lieber ans Bärenfleisch. Möge es ihr Kraft geben für alles, was kommen würde.
Erst einmal trank sie gierig die Flasche Limonade halb leer. Kein Wunder, dass sie durstig war. Nach all den Tränen, die sie vergossen hatte, war sie wahrscheinlich regelrecht dehydriert. Sie öffnete das Fenster. Es war ein merkwürdiges akustisches Phänomen, aber die Musik und das Stimmengewirr umflossen sie jetzt wirklich so, als stünde sie selbst dort unten. Sie setzte sich wieder bequem hin und machte sich über das Brot und das Fleisch her. Gleich zwei oder drei Bröckchen von beidem stopfte sie sich auf einmal in den Mund und kaute voller Hingebung. Fast ebenso gierig aber spähte und horchte sie ins Partygeschehen hinein. Wenn sie sich konzentrierte, konnte sie einen Teil der Gespräche, die in der Nähe ihres Fensters geführt wurden, sogar verstehen.
Miriam und ihre drei Verehrer hatten es sich in einer Sitzecke fast direkt unter ihr bequem gemacht. Einer der Männer hatte sich lässig auf der Lehne eines Sessels niedergelassen. Ein anderer hatte es sich mit einem Weinglas in der Hand in einem zweiten Sessel bequem gemacht. Miriam selbst saß auf einer Zweiercouch neben einem wahren Riesen, der sie bestimmt um eineinhalb Köpfe überragte. Sie hatte sich so eng an ihn geschmiegt, dass ohne Probleme noch ein Dritter Platz auf der Couch gefunden hätte. Ob dieser Typ ihr neuer Gebieter war?
Nicht nur seiner Größe wegen war er eine auffällige Erscheinung. Die dunkelblonden, schon etwas ergrauenden Haare fielen ihm in einer Art Prinz-Eisenherz-Frisur bis auf die Schulter. Dazu trug er einen ziemlich gepflegten Henri-Quatre-Bart, so einen, wie sie ihn manchmal in Ritterfilmen gesehen hatte. Er hatte sein Jackett, der Hitze wegen, ausgezogen und neben sich auf die Lehne des Sofas gelegt. Sein weißes Hemd hatte kurze Ärmel, und Anne sah, dass auf seinem linken Oberarm ein ziemlich großes Oldtimer-Auto tätowiert war.
Na ja, ihr Typ war Mister Oldtimer nicht gerade. Zu exzentrisch war sein Äußeres für ihren Geschmack. Aber Miriam schien er ja zu gefallen. Sie hatte wohl gerade irgendeine kluge Bemerkung gemacht, denn die Männerrunde stimmte ihr begeistert zu. Einer von ihnen erklärte zu „Mister Oldtimer“ gewandt: „Du hast wieder mal so ein Schweineglück, Thure. Zum ersten Mal Ausbildungs-Gebieter und schon hast du so ein hinreißendes Geschöpf ergattert.“
Anne sah, wie Miriam bei diesen Worten regelrecht dahinschmolz. Sie hatte ihr einmal gestanden, dass sie sich für hässlich hielt. „Elefantenbeine, Walrosshintern und ein Spitzmausgesicht“, hatte sie halb deprimiert, halb humorvoll aufgezählt und war überzeugt, dass kein Mann, der in ihren Augen auch nur halbwegs passabel war, sie jemals mögen würde. Daher hatte sie in den letzten Jahren ein so einsames Leben geführt, dass Anne es fast nicht glauben konnte. Zumal Miriam in ihren Augen tatsächlich alles andere als unattraktiv war.
Davon schien auch Mister Oldtimer überzeugt. Er schaute sie bei den Worten seines Gegenübers so stolz und liebevoll an, dass Anne sogar Neid verspürte. Der Mann berichtete, wie schwer es sei, zum Gebieter für die zweite Erziehungsphase ernannt zu werden. Er habe sich schon vier Jahre darum bemüht. Aber es gebe stets viele Bewerber und nur besonders erfahrene Alphas würden zugelassen. Man müsse ellenlange Formulare ausfüllen, bestimmte Qualifikationen vorweisen und habe sich mehrfach eingehenden Gesprächen mit Psychologen der Organisation zu stellen.
Schließlich sei es aber auch so etwas wie ein Ritterschlag, wenn die Organisation einem Alpha die Erlaubnis erteile, einen Zögling auszubilden. Für alle wichtigen Positionen innerhalb der Organisation sei dies praktisch die Voraussetzung. Als die Zusage kam, habe er daher umgehend die Leitung seiner Firma - er handelte tatsächlich mit Oldtimer-Autos, schloss Anne aus einigen Bemerkungen – an seinen Stellvertreter abgegeben und sich die nächsten Wochen freigeschaufelt.
Er wandte sich wieder Miriam zu: „Als ich die Filme und Akten über euch gesichtet habe und dich entdeckt habe, wusste ich sofort, die oder keine. Das habe ich auch auf dem Gebieter-Bewerbungsbogen angegeben.“
Miriam glühte jetzt
Weitere Kostenlose Bücher