Bärenmädchen (German Edition)
gebeugte Gestalt im Publikum glatt übersehen. Auch als Abner auf ihn hinwies, gelang es ihr gerade eben, seine schlohweißen Haare inmitten der Menge auszumachen. Eine Legende sei er, die uns heutzutage leider viel zu selten Gesellschaft leiste. Um so mehr freue Abner sich, ihn jetzt und hier begrüßen zu dürfen.
Es folgte die Vorstellung des nächsten Ehrengastes. Das war der Gebieter von Florence, der französischen Starschauspieler. In echt sah er fast noch besser aus als im Film, dachte Anne, auch wenn er erstaunlich klein war. Das fiel besonders auf, weil er neben einem ausgesprochen hochgewachsenen Mann stand. Ihn stellte Abner als vierten und letzten Ehrengast des Abends vor. Es war Monsieur Lacour selbst, der Leiter der französischen Niederlassung der Organisation. Lacour war ein schlanker Mann in den Fünfzigern mit scharfgeschnittenen Gesichtszügen und einer richtigen Adlernase. Ernst und düster blickte er in die Runde, als wäre das Willkommensfest mehr eine lästige Pflicht, die ihn von anderen, wichtigeren Dingen abhalte würde. Abners nächste Worte schafften es allerdings, auch ihm ein Grinsen zu entlocken.
„Monsieur Lacour hat mir übrigens gerade eben das Erfolgsgeheimnis seiner ‚La Betas‘ verraten. Damit sie besonders heiß und gefühlvoll spielen, müssen sie nämlich absolut keusch bleiben.“
Er wandte sich jetzt an die Sängerin der „La Betas“ und fragte: „Wie lange seid ihr es schon?“
„Trois Années, Monsieur Abner“, antwortete die Sängerin.
„Drei Jahre – ist denn das die Möglichkeit! Habt ihr das gehört Miriam, Beatrice, Natalie und all die anderen Betas, die ich da unten sehe? Von euch geht heute Abend keine unbefriedigt ins Bett. Das können wir euch garantieren. Nicht wahr?“
Die Alphas trampelten zur Antwort wild auf den Boden. Sie pfiffen und johlten. Mit einer kleinen Handbewegung sorgte Abner für Ruhe. Als Redner hatte er sein Publikum gut im Griff, musste Anne zugeben. Jetzt erklärte der Schlossherr: „Keine Angst, die anderen 20 Ehrengäste des heutigen Abends stelle ich euch nicht einzeln vor. Ihr wisst, wen ich meine. All die wunderbaren neuen Betas in unserer Mitte, die gestern ihre endgültige Beitrittserklärung unterschrieben haben. Es sind allesamt reizende Geschöpfe und wir wollen sie heute ehren und ihnen im zweiten Teil des Abends – verzeiht, wenn ich mich wiederhole –, das geben, wonach es sie so sehr verlangt. Zepter und Peitsche!“
Jetzt in den erneuten Jubel der Alphas hinein deutete Abner wieder auf zwei Personen vor der Bühne. „Hier an dieser Stelle noch einmal vielen Dank an unsere beiden Zofenmeisterinnen Holly Rüschenberg und Louise Caprét. Beide haben wieder einmal ganz hervorragende Arbeit geleistet.“
Anne entdeckte jetzt die Krähe in der Menge. Die Frau neben ihr schien Louise Caprét zu sein. Sie hatte eine zweite Gruppe von Zöglingen betreut. Anne hatte gehört, dass diese Mädchen einen Tag vor ihnen angekommen waren. Sie hatten sie manchmal in ihren grauen Trainingsanzügen aus der Ferne auf einem der Sportplätze gesehen, ansonsten hatte es keinen Kontakt gegeben. Aber es war wohl üblich, dass stets zwei, manchmal sogar drei Zöglingsgruppen gleichzeitig ausgebildet wurden.
Louise Caprét war eine hochgewachsene, schlanke Erscheinung in den Vierzigern. Bei ihrem Anblick war Anne fast froh, dass sie die Krähe als Zofenmeisterin gehabt hatte. So streng und unnahbar stand sie da, als wäre sie nicht menschlich, sondern aus einer Art unzerstörbarem Kunststoff gefertigt.
Beide Zofenmeisterinnen hatten Sinn für einen gelungenen Auftritt. Während die Krähe von zweien ihrer Engelsgesichter – cremefarbene Strumpfhosen, weinrote, rüschenbesetzte Hemden - begleitet wurde, hatte die Caprét zwei kaffeebraune männliche Betas dabei. Ehrerbietig und sehr demütig hatten sie hinter ihr Stellung bezogen und zeigten prachtvoll durchtrainierte Körper. Gekleidet waren sie obenherum wie die Engelsgesichter mit rüschenbesetzten weiten Hemden. Untenherum trugen sie aber ein Nichts von einem Lendenschurz!
Anne musste sich fast gewaltsam von ihrem Anblick losreißen. Sie schaute wieder auf den Schlossherren. Er erklärte gerade: „Wenn man sich die Zöglinge von Madame Rüschenberg und Madame Caprét heute Abend betrachtet und gesehen hat, in welch schlaffem, ja geradezu vernachlässigtem Zustand sie aus der…“ – jetzt hob er seine Finger und deutete Anführungszeichen an – „…normalen Welt bei uns
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