Bärenmädchen (German Edition)
Urteilsverkündung also.
Holly Rüschenberg sprach aus, womit Anne gerechnet hatte. Trotzdem war es niederschmetternd, es tatsächlich und unwiderruflich bestätigt zu bekommen. Sie wurde in die Spezialausbildung gesteckt und als Stute abgerichtet. Rockenbach war damit ihr Ausbildungs-Gebieter. Adrian Götz wiederum würde Dascha in der zweiten Erziehungsphase übernehmen. Da Anne von der Krähe ins „Steh“ befohlen war, konnte sie die Tränen diesmal nicht wegwischen und so rannen sie ihre Wangen entlang und tropften sachte auf den Trainingsanzug.
Eine Überraschung aber gab es: Anders als Ines würde sie doch am Willkommensfest teilnehmen - zumindest am schmerzhaften Teil der Feierlichkeit. Sie würde in der zweiten Hälfte des Festes wie die anderen gepeitscht werden und den Alphas erstmals als Lustobjekt zu Diensten sein. Bis dahin allerdings habe sie sich in der Küche nützlich zu machen. Der Küchenchef wisse Bescheid. Man würde sie abholen.
Die Krähe hatte all dies fast emotionslos vorgebracht. Na klar, dachte Anne, so geht man eben mit Delinquenten um, die zum Tode verurteilt sind oder in die Verbannung geschickt werden. Starke Gefühle, selbst Wut oder Ärger an sie zu verschwenden, lohnt einfach nicht. Bevor die Zofenmeisterin hinausging, konnte sie sich einer menschlichen Regung aber wohl doch nicht erwehren. Sie kramte aus der Tasche ihrer Jacke eine angebrochene Packung Tempotaschentücher hervor und reichte sie Anne. Dann – sie mühte sich lange die richtigen Worte zu finden - sagte sie: „Such dir einen Anker. Etwas, an das du dich klammern kannst in der Spezialausbildung. Man verliert sich als Stute. Es wäre schade um dich.“
Abrupt, als wäre sie angesichts dieser barmherzigen Worte über sich selbst erschrocken, wandte sie sich um und verschwand durch die Tür. Anne blieb ratlos zurück. Sich verlieren? Wieder diese Warnung. Aber was war daran eigentlich schlecht? Im Augenblick erschien ihr dieser Zustand als der erstrebenswerteste von allen. Sie versuchte, ihn sogar schon einmal auszuprobieren. Die nächsten Stunden mühte sie sich, nicht an Adrian zu denken, nicht an Dascha, nicht an die Prügelei und vor allem nicht daran, wie unsäglich dumm sie gewesen war.
Es funktionierte etwa so gut, wie wenn sie versucht hätte, das Atmen einzustellen. Irgendwann kam eine Zofe herein und stellte ein Tablett mit Essen auf den Tisch. Aber sie verspürte nicht den geringsten Hunger. Ja, sie war überzeugt, niemals wieder etwas herunterzukriegen. So blieb das Essen unberührt, bis es bald darauf wieder abgeholt wurde. Etwa zehn Taschentücher später fühlte Anne sich dann so leer und ausgebrannt wie eine Hausruine, die einer Feuersbrunst zum Opfer gefallen war.
Da hörte sie, wie sich wieder der Schlüssel im Schloss drehte. Die Tür ging auf und der Anblick der sich ihr bot, war so unerwartet, dass Anne einen Augenblick lang alles, was sie quälte, vergaß. Vor ihr stand ein kleiner Junge. Er hatte strubbelige schwarze Haare, war etwa acht oder neun Jahre alt und trug über Jeans und T-Shirt eine schwarze Kochschürze mit der roten Aufschrift „Grillkönig Nummer 1“.
„Mein Vater lässt fragen, ob du in die Küche kommen möchtest, um uns zu helfen“, erklärte der Junge mit ernster Miene.
Da musste Anne lächeln, und das war nach all den kummervollen Stunden so ungewohnt, dass ihre Gesichtsmuskeln dabei fast wehtaten. Sie nickte und als der Junge dann sagte: „Da wird sich Papa freuen. Wir müssen furchtbar viel kochen heute Abend“, fiel ihr das nächste Lächeln schon wieder etwas leichter.
„Dann musst du mir aber zeigen, wo es zur Küche geht“, sagte sie.
„Aber sie ist doch gleich nebenan. In diesem Zimmer hält Papa immer seinen Mittagsschlaf. Aber heute ging das ja nicht.“
Er schaute sie etwas vorwurfsvoll an.
„Das tut mir leid, Herr Grillkönig.“
„Ich heiße Dennis und nicht Grillkönig. Das steht nur auf meiner Schürze.“
„Tschuldigung, ich mache aber auch wirklich alles falsch.“
„Das macht nichts. Dafür bist du wunderschön.“
Jetzt ging das Lächeln schon wieder fast wie von selbst, besonders als der Junge an sie herantrat und seine kleine Hand in ihre schob. Dann führte er sie aus der Kammer hinaus, den Gang entlang bis zu zwei großen Schwingtüren aus glänzendem Metall. Sie gingen hindurch und Anne fand sich in der lauten, dampfgeschwängerten Geschäftigkeit einer Großküche wieder. Dennis steuerte mit ihr im Schlepptau geradewegs auf
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