Bärenmädchen (German Edition)
einmal eine Zeit der Unruhen und Kämpfe riskieren wollten.“
Er schaute vielsagend zu Sieversen hin, dann sprach er weiter: „Nun aber gibt es immer mehr Anzeichen, dass wir auf einen ernsten Konflikt zusteuern. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich in diesem Zusammenhang den Namen Philippe de Ortega nenne. Unser Magnus-Mitglied aus Südamerika gilt als Führer der Abweichler. Ich aber sage es hier ganz offen. Seine Meinung bezüglich der Behandlung von Betas und unseres Legalitätsprinzips teile ich nicht. Sicher, Philippe de Ortega ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Viele von euch haben ihn schon auf Treffen und Kongressen erlebt oder eines seiner Bücher gelesen.“
Beim Stichwort Buch fiel Anne wieder ein, woher sie den Namen kannte. Ortega war derjenige gewesen, der über die Spezialausbildung geschrieben hatte. Auch den Titel eines seiner anderen Bücher hatte Anne nicht vergessen. „Geknechtete Sadisten – vom Zwang überholter Moralvorstellungen“, hieß es. Ortega war eindeutig jemand, von dem sie wie bei Somogy hoffte, dass sie ihm nie begegnen würde. Wie gut, dass er anscheinend im fernen Südamerika sein Unwesen trieb. Trotzdem: Ein „perfekt funktionierendes Staatswesen“, wie Attila von Ungruhe im Zofenkundeunterricht getönt hatte, schien die Organisation Magnus nicht zu sein. Was da ablief, war ganz schön unheimlich, dachte sie.
Abner sagte unterdessen: „Ortega verspricht viel und er tut dies in verführerischen Worten. Er spricht von einer neuen Zeit, in der Moral und Regeln ohnehin nichts mehr gelten würden. Er spricht von neuartigen Techniken, die einen Grad von Beta-Kontrolle ermöglichen, den man bis dahin niemals für möglich gehalten hätte. Aber ich sage es ganz deutlich, was er vorhat, führt uns auf den falschen Weg.“
Anne bemerkte, dass sich der Applaus diesmal in Grenzen hielt. Sicher, viele klatschten begeistert und nickten voller Zustimmung. Monsieur Lacour war darunter, ebenso Florence‘ Gebieter und die Krähe. Andere aber blieben ruhig, zum Beispiel Louise Caprét. Auch Rockenbach klatschte nur verhalten, so als wäre er unschlüssig und hätte sich noch keine Meinung gebildet.
Anne hatte das Gefühl, dass selbst Abner überrascht war, wie viele Leute zurückhaltend reagierten. Forschend schweifte sein Blick durchs Publikum, als wolle er sich jeden der möglichen Anhänger Ortegas genau einprägen.
Zu Annes Überraschung bat er dann Friedrich Sieversen auf die Bühne. Abner erklärte: „Liebe Freunde, ich weiß, dass euch der Sinn heute Abend nach anderem steht, aber gebt uns noch eine Minute. Hier ist jemand, der wie kein zweiter über die schreckliche Zeit unserer ersten Spaltung berichten kann. Ich möchte, dass jeder weiß, was auf uns zukommen kann, bevor er sich zu voreiligen Taten hinreißen lässt.“
Anne sah, wie man dem alten Sieversen respektvoll Platz machte, als er - sichtlich um einen geraden und aufrechte Gang bemüht – nach vorne ging. Monsieur Lacour und Florence‘ Gebieter halfen ihm eine kleine Treppe zur Bühne hoch. Dann stand er am Mikro und begann mit unerwartet fester und voller Stimme zu sprechen. Es fiele ihm nicht leicht, hier und heute aufzutreten, denn es ginge um schreckliche Fehler, die er einst begangen habe. Aber wie auch Dr. Abner sei er überzeugt, dass es die Situation erfordere. Sieversen erlaubte sich ein knappes Lächeln. Daher wolle er als geläuterter Schurke von einer Zeit reden, als…
In diesem Augenblick schaute Anne nach rechts die Empore herunter. Jemand hatte sie gerufen. Es war Dennis. Er wartete wieder auf ihre Informationen. Wie schnell die 30 Minuten doch vorüber gegangen waren. Sie lief zu ihm hinunter und gab die Daten durch. Weil der Junge so neugierig war und sie ihm den Wunsch einfach nicht abschlagen mochte, schilderte sie ihm dann noch in einer jugendfreien Version, was drüben im Saal vor sich ging. Als sie danach wieder zum Aussichtsplatz huschte, war Sieversens Ansprache zu ihrer Enttäuschung beendet. Abner stand am Mikrofon. Jetzt schlug er wieder fröhliche Töne an: Da er sicher sei, dass die Alphas ohnehin das Fest zu genießen wüssten, würde er sich jetzt ausdrücklich an die Betas wenden. Er wünsche ihnen vom ganzen Herzen noch einen schmerzhaft-schönen Abend, besonders wenn sich die einzelnen Gruppen nachher zum – wieder die Anführungszeichengeste – „fröhlichen Schlagabtausch“ in die Separees zurückziehen würden. Das wiederum fanden besonders die Alphas unter den
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